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Seitenwechsel der Tabus

Von Fabio Witzeling

Gastkommentare

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Vor 50 Jahren, am 7. Juni 1968, fand im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes (NIG) der Universität Wien die Aktion "Kunst und Revolution" - heute vor allem bekannt unter dem Titel "Uni-Ferkelei" - statt. Der Anspruch der dafür verantwortlichen Wiener Aktionisten um Otto Muehl,Günter Brus und Peter Weibel war es, so viele Tabus wie möglich auf einmal zu brechen.

Ganz im Sinne des damals sich entfaltenden Zeitgeistes wollte man das für reaktionär gehaltene Bürgertum aufmischen - und zwar mit allem subversiven Überschwang. So wurde unter großem Tamtam im universitären Rahmen uriniert, masturbiert und defäkiert, während unter anderem die Bundeshymne vorgetragen wurde. Und - oh Wunder: Das konservative Establishment sowie ein großer Teil der anwesenden Studentenschaft waren empört. Auch wenn in Österreich sonst im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich die Zeiten eher ruhiger waren, prägt dieser heimische Beitrag zur damaligen studentischen Revolte bis heute das Bild der sogenannten 68er entscheidend mit.

Heute gilt offenbar das Setzen von Grenzen als unanständig

Gegenwärtig gibt es kaum noch derlei groß angelegte künstlerische Tabubrüche. Und wenn, so hört man kaum etwas davon. Doch warum? Verschweigt man sie uns? Ist die Kunstszene 50 Jahre später zu einem neuen Spießertum konvertiert? Gibt es gar keine Tabus mehr? Doch nach der zwanzigsten Theaterinszenierung mit Flüchtlingen als Hauptdarstellern, der dreißigsten demonstrativen Entweihung christlicher Symbole in einer Ausstellung, dem vierzigsten Kabarettisten, der sich über die projizierte Kleinkariertheit von Wählern konservativer Parteien lustig macht, und dem fünfzigsten Poetry-Slam, in dem traditionelle Geschlechterrollen hinterfragt werden, beginnt es langsam zu dämmern: Das Tabu hat die Seiten gewechselt und mit ihm der Tabubruch.

War es früher das Pathos der Entgrenzung, das sich gegen als repressiv empfundene Institutionen richtete, scheint heute das Setzen von Grenzen als etwas Unanständiges verpönt zu sein. Wurde damals das Verwerfen von Traditionen als historischer Loyalitätsbruch gesehen, stößt heute das Wiederentdecken des Traditionellen auf die Verachtung des intellektuellen Klerus. Galt einst die Zurückweisung eines patriarchalen Ehrgefühls als moralzersetzende Verweichlichung, befürchtet man heute hinter jeder thymotischen Regung der Selbstbehauptung eine soziopathische bis faschistoide Disposition. Der von den 68ern getragene Wertewandel hat nicht ausschließlich zur großen Befreiung von überkommenen Wertbildern geführt. Konservativ gepolte Zeitgenossen, oder einfach Menschen, die in relevanten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mit dem Moralismus des "juste milieu" übereinstimmen, können ein Lied davon singen, wie weit es mit der Freiheit für Andersdenkende her ist. Was im öffentlichen Diskurs gern "politische Korrektheit" genannt wird, bezeichnet ein neues System von Tabus, das viel engmaschiger angesetzt ist als die 1968 schon in Auflösung begriffene "bourgeoise Moral".

Der kulturelle Status quo ähnelt jenem vor 1968

Auch wenn die heutige Hypermoral mit ihren absurden Sprach- und Denkregelungen nun fast überall einen (oft gleichermaßen überzogenen) Backlash erfährt, so hält sie sich bedauerlicherweise gerade im Kulturbetrieb am vehementesten und schnürt diesen in einer deprimierenden Verflachung ein. Man blicke nur auf eine beliebige Unterhaltungssendung, vor allem bei unserem großen Nachbarn.

Der kulturelle Status quo besitzt somit sinnigerweise eine gar nicht so geringe Strukturähnlichkeit mit den vermeintlichen Verhältnissen vor 1968. Die ängstliche Langeweile schreit schon lange nach einer gründlichen Aufmischung. Bleibt also nur noch die Frage offen, was eine neue Generation von Ferkeln wohl mit der gegenderten Bundeshymne anstellen würde.

50 Jahre nach der "Uni-Ferkelei" hat sich die Situation umgekehrt.

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