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Selbst die Unabhängigkeit ist Streitobjekt in Brasilien

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik
Die Fassade des Nationalkongresses, der Abgeordnetenkammer und Bundessenat beinhaltet, erstrahlt anlässlich des Jubiläums.
© reuters / Ueslei Marcelino

Im Präsidentschaftswahlkampf ringen Jair Bolsonaro und Lula da Silva auch um die Deutungshoheit des 200. Jahrestages der Eigenständigkeit.


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Luiz Inacio Lula da Silva (76) ist mal wieder in seinem Element. Von der großen Bühne ruft er zum Generalangriff auf Amtsinhaber Jair Bolsonaro auf. Hinter ihm leuchten in bunten Farben die vier Buchstaben seines Namens: "LULA". Aus den Lautsprechern kommt die Wahlkampfmusik aus vergangenen Jahren. Der Präsident von 2003 bis 2011 will Brasilien zurückgewinnen und schwelgt in Erinnerungen an die gute alte Zeit, als er das Land regierte und nicht der verhasste Rechtspopulist Bolsonaro. "Der 7. September ist der Unabhängigkeitstag. Aber die wahre Unabhängigkeit wird am 2. Oktober erreicht, wenn die Wahlen Brasilien wieder in ein souveränes und unabhängiges Land verwandeln werden", ruft Lula seinen Anhängern zu und greift Bolsonaro frontal an: "Dieser Völkermörder verdient es nicht, Präsident der Republik zu sein." Ein Völkermörder ist Bolsonaro aus Sicht seiner Kritiker wegen seiner chaotischen Corona-Politik. In Brasilien kamen 685.000 Menschen ums Leben. Fast 322 Personen pro 100.000 Einwohnern starben - so viele pro Kopf wie in keinem anderen Land laut Daten der Johns-Hopkins-University.

Am Mittwoch feiert Brasilien seinen 200. Unabhängigkeitstag. So richtig erkämpft haben sich die Brasilianer ihre Freiheit von den portugiesischen Kolonialherren nicht. Anders als so viele andere lateinamerikanische Völker unter Freiheitskämpfer Simon Bolivar, die auch auf dem Schlachtfeld erfolgreich waren. Deswegen war der Tag bisher auch nicht sehr wichtig in der allgemeinen Wahrnehmung der Brasilianer. Doch das hat sich geändert.

Bolsonaro spricht schon jetzt von Wahlbetrug

Denn Präsident Bolsonaro geht gerne mit dem Nationalstolz auf Stimmenfang. Und während ihn die Linke um Lula da Silva einen Völkermörder und Faschisten nennt, kontern seine Anhänger: Lula ist ein Kommunist, der die menschenverachtenden Linksdiktaturen in Kuba, Nicaragua und Venezuela unterstützt. Faschist gegen Kommunist, Völkermörder gegen Diktatur-Unterstützer, darunter geht es nicht mehr in Brasilien. Willkommen in der heißen Phase des Wahlkampfes.

Bolsonaro setzt in seinem Wahlkampf nun vermehrt auf seine Ehefrau Michelle, die die konservativen evangelikalen Frauen für ihn gewinnen soll. Sie spricht von Dämonen, wenn sie über die Linke spricht, und davon, dass ihr Mann von Gott gesandt sei. Lula dagegen sei ein Teufel. Das gezielte Abgleiten in die spirituelle Irrationalität gehört im Bolsonaro-Clan zum Handwerk. Bolsonaro ist gegen die Abtreibung, Lula dafür. Bei den evangelikalen Wählern kann das entscheidend sein.

Nicht wenige erwarten am Mittwoch deshalb eine flammende Rede der Primera Dama, die vor allem auf die evangelikalen Wähler abzielen soll. Vor wenigen Wochen konnte Michelle Bolsonaro bei der Kandidatenkür schon einmal mit einer emotionalen Rede die Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit auf sich ziehen. Sie ist deutlich jünger als ihr Mann, gilt als charismatisch und wortgewandt.

Bolsonaro selbst will einen Marsch seiner Anhänger am berühmten Strand von Copacabana anführen. Es geht um - bisher nicht bewiesene Vorwürfe - eines bevorstehenden Wahlbetruges. Bolsonaro pocht darauf, dass die Militärs die Stimmenauszählung überwachen. Er vertraut den elektronischen Urnen nicht. Beweise, dass diese tatsächlich manipuliert werden können, hat er bislang nicht vorlegen können.

An der Copacabana sollte nach seinem Willen zunächst eine Unabhängigkeits-Militärparade stattfinden, doch das unterband der Bürgermeister von Rio de Janeiro. Bolsonaro erkor obendrein den Obersten Gerichtshof zum Gegner, der ihm - nach seiner Lesart - immer wieder behindert. Vor einem Jahr organisierte er deswegen einen Protestmarsch gegen die Institutionen und für die "Unabhängigkeit" des Volkes. Er sei ja schließlich der gewählte Volksvertreter und nicht die Richter. Diese Machtspiele gemeinsam mit den Militärs gehören zu seinem Repertoire.

Miserable Umweltbilanz auch bei Lula

Das Thema Unabhängigkeit greift Bolsonaro auch auf, wenn es um den Amazonas geht. In seiner Amtszeit hat die Abholzung des für das Weltklima so wichtigen Ökosystems wieder zugenommen, Umweltrechte wurden zurückgeschraubt, die Rechte indigener Völker beschnitten. Dafür gilt Bolsonaro weltweit als Schmuddelkind, mit dem praktisch niemand mehr auf ein Foto will. Eigentlich ist er bis zum 2. Oktober international isoliert. Bolsonaro argumentiert, niemand anderes als die Brasilianer hätten über den Umgang und die Zukunft des Regenwaldes zu entscheiden. Das sei eine Frage der nationalen Souveränität. Der Versuch der Einflussnahme der Europäer sei eine Fortsetzung kolonialer Politik aus den vergangenen Jahrhunderten. Lula, in dessen erster Amtszeit die Abholzung fast doppelt so hoch war wie in Bolsonaros ersten vier Jahren, präsentiert sich trotz eigener katastrophaler Umweltbilanz als Waldbeschützer und kündigt eine Null-Abholzungs-Strategie an.

Alle Umfragen sagen einen Sieg Lulas voraus, wohl erst im zweiten Wahlgang Ende Oktober. Für den qualifizieren sich die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen im ersten Durchgang am 2. Oktober. Während sich die beiden Populisten aus den gegensätzlichen Lagern mit Beschimpfungen und Extremismus-Vorwürfen überziehen, bleiben die bedächtigen und pragmatischeren Kandidaten Ciro Gomes und Simone Tebet im Schatten der Alphatiere, obwohl sie bisweilen die seriöseren und realistischeren Ankündigungen machen. Der moderate Linkspolitiker Gomes, der immerhin auf neun Prozent bei den Umfragen kommt, nennt die Wahl zwischen Lula und Bolsonaro eine Entscheidung zwischen einer schlimmen und einer schlechten Sache.

Doch worum geht es eigentlich am Unabhängigkeitstag in Brasilien: Genau vor 200 Jahren, am 7. September 1822, erreichte Dom Pedro I., den Prinzen aus dem Haus Braganza, eine Depesche aus der portugiesischen Heimat. Dom Pedro I. war zu dieser Zeit im Großraum des heutigen Sao Paulo unterwegs und musste zur Kenntnis nehmen, dass ihn das portugiesische Parlament aufforderte, die sich als unabhängig von Lissabon erklärte Regierung in Rio de Janeiro aufzulösen. Überliefert ist, dass der Prinz keine Lust verspürte, den Befehlen aus der fernen Heimat zu folgen. Am Fluss Ipiranga soll es zu den drei Worten gekommen sein, die die Schicksal Brasiliens für immer verändern sollte: "Independencia ou morte", "Unabhängigkeit oder Tod".

Geschichtskundige vermuten, dass der Prinz im Herzen kein wirklicher Unabhängigkeitsfreund war, sondern schlichtweg ökonomische Interessen verfolgte. Brasilien war für die Königsfamilie eine echte Goldgrube und die Heimat weit, weit weg. Noch bis ins Jahr 1889 blieb die adelige Familie im Kaiserreich Brasilien an der Macht, erst danach wurde das Land zur Republik.

Auswanderung in die frühere Kolonialmacht

Das heutige Verhältnis Brasiliens zu Portugal ist entspannt. Die ehemalige Kolonialmacht Portugal, einst für Ausbeutung, Plünderung und massive Gewalt gegen die indigenen Völker und eine rücksichtslose Durchsetzung des christlichen Glaubens mitverantwortlich, gilt heute als Traumziel für viele Brasilianer. Die demokratische und ökonomische Stabilität des südeuropäischen Staates übt eine enorme Anziehungskraft aus. Die schwierige Wirtschaftslage und die bisweilen nur schwer zu kontrollierende Kriminalität in den Millionenmetropolen bewegt viele Brasilianer zur Auswanderung. Die gleiche Sprache macht es ihnen dort erheblich leichter als in anderen Ländern. Statistiken zu Folge leben heute rund 210.000 Brasilianer legal in Portugal. Sie stellen damit die größte ausländische Gemeinde. Darüber hinaus gibt es etwa weitere 100.000 in Portugal lebende Brasilianer ohne gültige Aufenthaltspapiere.