Jeder Selbständige kann sich sein Berufsbild selbst zusammenschustern. | Gewerbeschein wird am Bau und in der Gastronomie oft missbraucht. | Wien. Der Gewerbeschein ist das Freilos in die Selbständigkeit. Jeder, der eigenständig als Unternehmer arbeiten will, benötigt den Nachweis in der Größe eines A4-Zettels. Ausgenommen sind Freiberufler wie Ärzte, Psychotherapeuten, Künstler, Anwälte oder Landwirte.
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Die erste Anlaufstelle für die Beantragung des Gewerbescheins sind die Gründerservicestellen der Wirtschaftskammer, die Bezirkshauptmannschaften beziehungsweise in Wien auch das Magistratische Bezirksamt. Wer in einem reglementierten Gewerbe tätig sein will - vom Arbeitsvermittler bis zum Zimmermeister -, muss dort die Befähigungsnachweise vorlegen. Je nach Berufsbild sind das Zeugnisse der Gesellenprüfung, vom Studium oder der Schulbildung.
An die 82 Berufsbilder scheinen derzeit auf der Liste der reglementierten Gewerbe auf. Vor einigen Jahren waren es deutlich mehr. Durch die Liberalisierung der Gewerbeordnung im Jahr 2002 wanderten viele Gewerbegruppen, die bisher aufwendig bewilligt werden mussten, zu den sogenannten freien Gewerben. Sie können ohne Befähigungsnachweis ausgeübt werden.
Nur sanft berühren, nicht massieren
Dem Ideenreichtum findiger Unternehmer werden keine Grenzen gesetzt. Die Liste der freien Gewerbe in Wien - das Gewerberecht ist Ländersache - enthält rund 700 Wortlaute und ist beliebig nach oben erweiterbar.
Jeder angehende Unternehmer kann sich quasi sein eigenes Berufsbild zusammenschustern. Die einzige Einschränkung: "Bei der Erfindung weiterer freier Gewerbe ist darauf zu achten, dass nicht in Tätigkeiten eingegriffen wird, die einem reglementierten Gewerbe vorbehalten sind", erklärt Doris Podesva, Gewerberechtsexpertin der Wirtschaftskammer Wien.
Die Grenzen liegen nah beieinander: Wer sich zum Beispiel mit Gartenarbeiten selbständig machen will, darf zwar Rasen mähen und Laub zusammenrechen, nicht aber die Hecke schneiden. Das bleibt nur dem ausgebildeten Gärtner vorbehalten.
Wer als Selbständiger "Hilfestellung zur Erreichung einer körperlichen beziehungsweise energetischen Ausgewogenheit" anbietet, darf mit Düften, Lichtquellen und "sanfter Berührung des Körpers" arbeiten, nicht aber massieren. Das fällt unter das "reglementierte" Berufsbild des Masseurs.
Die lockere Handhabung des freien Gewerbes stößt nicht bei allen auf Gegenliebe. Denn sie öffne der Scheinselbständigkeit Tür und Tor, heißt es von Kontrollstellen. Wer einen Gewerbeschein für die "Speisenzubereitung für nicht gastgewerbliche Auftraggeber" besitzt, arbeite oftmals in der Küche eines Hotels als unselbständiger Koch.
Wenig erfreut darüber ist freilich die Fachgruppe Gastronomie der Wirtschaftskammer, die von einer "unsauberen Einrichtung" spricht. "Diese Person dürfte rechtlich nur in Privatküchen kochen. Es ist heikel, wenn man sich darauf verlassen muss, dass sich alle Beteiligten rechtlich auskennen", sagt Gruppengeschäftsführer Walter Freundsberger.
Angespannt ist auch das Verhältnis mit den Selbständigen in der Bauwirtschaft: Zu den am häufigsten gelösten freien Gewerben im Jahr 2010 zählte etwa das "Verspachteln von bereits montierten Gipskartonplatten" - neben gelösten Gewerbescheinen für die Personenbetreuung oder EDV-Dienstleistungen.
Aus den regelmäßigen Baustellen-Kontrollen der Finanzpolizei am Bau geht hervor, dass viele dieser Personen ebenfalls auf Anweisung eines Auftraggebers und nicht selbständig arbeiten. "Bei vielen in den letzten Jahren kreierten Gewerben steht die Frage im Raum, ob in der Praxis tatsächlich eine Selbständigkeit im Sinne der Gewerbeordnung beziehungsweise in steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht vorliegt", gibt auch Gert Boba, Leiter der Wiener Fachgruppe der gewerblichen Dienstleister, zu bedenken.
Weitere selbständige Tätigkeiten am Bau auf der Wiener Liste der freien Gewerbe: das "Anbringen von Netzen an Baugerüsten" oder die "Montage von mobilen Trennwänden durch Verschrauben fertigbezogener Profilteile". Das Gewerbe "Heben und Bewegen von Lasten unter Einsatz von Muskelkraft" wurde mittlerweile aus der freien Unternehmertätigkeit gestrichen.
Vielfalt nützt dem Standort Österreich
Die Gewerbeordnung wird derzeit überarbeitet. Es gehe darum, die Anwendbarkeit und Lesbarkeit für die Unternehmer zu verbessern, heißt es dazu aus dem Wirtschaftsministerium.
Die bunte Vielfalt der freien Gewerbe bleibt indessen unangetastet. Das Argument des Ministeriums: "Die Liberalisierung hat sich bewährt und entspricht auch im internationalen Vergleich einem modernen Unternehmensrecht. Diese Verwaltungsvereinfachung fördert das Unternehmertum und wertet den Standort Österreich auf."