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Selbstauflösung oder Putsch?

Von Robert Sedlaczek

Februar 1934
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Robert Sedlaczek ist Autor zahlreicher Bücher über die Sprache. Zuletzt ist "Österreichisch für Anfänger" im Verlag Amalthea erschienen, ein heiteres Lexikon, illustriert von Martin Czapka.

Die Ereignisse des Jahres 1933 wurden in der ÖVP vor kurzem neu bewertet. Reinhold Lopatka nähert sich wieder den alten Positionen an.


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Was im Jahr 1933 passiert ist, wurde lange Zeit von der ÖVP als "Selbstausschaltung des Parlaments" bezeichnet. Erst der frühere Nationalratspräsident Andreas Khol bahnte der Wahrheit eine Gasse: "Es war ein Putsch, und herausgekommen ist eine Diktatur." Bundeskanzler Engelbert Dollfuß habe zwar Österreich gegen die Nationalsozialisten verteidigen wollen, aber das habe er mit undemokratischen Mitteln getan. Die standrechtlichen Erschießungen von Sozialdemokraten im Februar 1934 seien "unverzeihlich". Dollfuß habe allerdings eine "weiche Diktatur" errichtet und diese sei keine faschistische gewesen.

Das war ein wichtiger Baustein zur konsensualen Aufarbeitung eines schicksalshaften Kapitels der österreichischen Geschichte.

Was Khol sagte, wurde zwar schon längst auch von Historikern vertreten, die der ÖVP nahestehen. Aber Khol war der erste Politiker, der diese klaren Worte fand.

Jetzt ist ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka von "Profil" zum gleichen Thema befragt worden. Anlass war ein aufgetauchtes Dokument, das den Schluss nahelegt, Dollfuß habe im Februar 1934 erwogen, die besetzten E-Werke mit einem Giftgasangriff zu räumen.

Lopatka zog die Glaubwürdigkeit des Schriftstücks nicht in Zweifel. Wenn damit Giftgas und nicht Tränengas gemeint war, so sei das schockierend. Gefragt, ob die Auflösung des Parlaments eine Selbstauflösung war oder ein Putsch, meinte er allerdings: "Ich sage weder Selbstausschaltung noch Putsch." Bei der Abstimmung am 4. März 1933 hätten alle Parteien Fehler gemacht, diese hätte man korrigieren können. Die Situation sei von Dollfuß bewusst genutzt worden, "um die Demokratie auszuhebeln". Und weiter: "Putschisten sind für mich jene, die aktive Schritte setzen. Das musste er nicht mehr tun."

Was Lopatka vergisst: Besonnene Abgeordnete wollten das Parlament wieder einberufen, wurden aber von der Polizei daran gehindert, das Gebäude zu betreten. Und Dollfuß hatte lange darauf hingearbeitet, die Parteien zu verbieten und den "Ständestaat" mit der Einheitspartei Vaterländische Front zu errichten. Lopatka nähert sich inhaltlich wieder den alten, geschichtsverfälschenden Positionen an.

Die Historiker etikettieren die damalige Zeit als "Regierungsdiktatur". Dollfuß war gleichzeitig Bundeskanzler, Innen-, Verteidigungs-, Sicherheits-, Land- und Forstwirtschaftsminister - de facto auch Außenminister, die Stände hatten im "Ständestaat" nichts zu reden.

So sieht es also aus: Erst dem Parlamentarismus ein Ende bereiten, dann alle wichtigen Positionen in der Regierung selbst ausüben - wenn das keine "aktiven Schritte" waren?

Wobei die Fehler der Sozialdemokraten nicht übersehen werden dürfen. Ihre verbale Radikalität (Ruf nach einer "Diktatur des Proletariats") war Nahrung für die Propaganda der Heimwehren. Rückblickend hätten die Sozialdemokraten 1931 nach dem Zusammenbruch der Banken das Koalitionsangebot Ignaz Seipels unbedingt annehmen müssen. Laut Bruno Kreisky war das die letzte Chance, die Demokratie zu retten.