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Selbstbedienungsladen

Von WZ-Korrespondent Silviu Mihai

Politik
Gemeinsame Finanzinteressen: Regierungschef Orbán und Nationalbankchef Matolcsy.
© reu/Balogh

Mehr als 800 Millionen Euro an öffentlichen Geldern wurden in Ungarn offenbar entwendet - ein Teil der veruntreuten Gelder aus Zentralbankstiftungen landete bei den Günstlingen der Regierung von Viktor Orbán.


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Budapest. Lange wollte György Matolcsy, der Präsident der ungarischen Zentralbank (MNB), die Liste der Ausgaben geheim halten. Schließlich handele es sich ja gar nicht um die Bilanz seiner Institution, sondern um die der sechs Stiftungen, die die Bank 2014 gründete. Durch den Kapitaltransfer hätten die Fonds "ihren Charakter der öffentlichen Gelder verloren", argumentierte der frühere Finanzminister zum Erstaunen der regierungskritischen Journalisten. Doch Ende vergangener Woche setzte die Kúria, Ungarns oberster Gerichtshof, der Geheimniskrämerei ein Ende: Es handelt sich wohl um öffentliches Geld und die Bestimmungen des Rechts auf Auskunft finden entsprechend Anwendung, beschlossen die Richter. Noch konnten die zahlreichen kurz darauf veröffentlichten Dokumente nicht vollständig unter die Lupe genommen werden, und manche Aspekte bleiben noch unklar.

Dennoch steht Ungarn - so viel ist unumstritten - von einem der größten Korruptionsskandale der letzten Jahre. Mehr als 800 Millionen Euro wurden seit der Gründung der Stiftungen entweder für fragwürdige Zwecke ausgegeben - oder schlechthin veruntreut. Offiziell sollten die Stiftungen der Zentralbank zur Förderung und Popularisierung der ökonomischen Kultur sowie des Studiums der Volkswirtschaftslehre beitragen. Alle sechs tragen pompöse lateinische Namen und verwalten insgesamt fast eine Milliarde Euro aus den Koffern der MNB.

Von Anfang an äußerten jedoch kritische Medien und Oppositionspolitiker Zweifel an der merkwürdigen Konstruktion, nicht zuletzt, weil Matolcsy als einer der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Viktor Orbán gilt - und zugleich für seine "unorthodoxe" Wirtschaftspolitik bekannt ist. In der Tat häuften sich bereits im vergangenen Jahr die Indizien dafür, dass die Stiftungen mit den Geldern der Zentralbank exklusive Immobilien erwerben, sanieren und in kommerzielle Unterfangen investieren, die wenig bis gar nichts mit der jeweiligen Satzung zu tun haben. Doch angesichts der Geheimhaltung der Bilanzen blieben journalistische Recherchen und parlamentarische Anfragen eher auf der Ebene der Spekulation.

Mit der Veröffentlichung der lange fälligen Dokumente kehren endlich Fakten ans Licht - und sie sind für die Führungsriege in Budapest äußerst problematisch. Ein Großteil der Gelder wurde für den Kauf von ungarischen Staatsanleihen verwendet, was aus Sicht der Europäischen Zentralbank einer illegalen, weil direkten Finanzierung des Staatshaushalts gleichkommt.

Ein Anfang des Monats veröffentlichter Bericht der Europäischen Zentralbank (EZB) thematisierte bereits den Sachverhalt und forderte von den ungarischen Behörden eine Erklärung.

Ein weiterer Teil der Summen wurde für den Erwerb repräsentativer Immobilien in Budapest benutzt, der beträchtliche Aufwand scheint hier allerdings in keinem Verhältnis mit den eher wissenschaftlichen und akademischen Zielen der Stiftungen zu stehen. Zudem zählen unter den Kontrakteuren dieser lukrativen Immobiliengeschäfte mehrere Firmen, die Tamás Szemerey, dem Cousin des MNB-Präsidenten Matolcsy gehören.

Des weiteren wurde mit mehr als 1,5 Millionen Euro das private Online-Nachrichtenportal vs.hu finanziert. Die Herkunft der Gelder war bisher offenbar selbst der Redaktion nicht bekannt gewesen: Der Chefredakteur und ein Dutzend Journalisten kündigten am vergangenen Montag und boten sogar an, ihre Gehälter zurückzuzahlen, um an der Zweckentfremdung öffentlicher Gelder nicht beteiligt zu sein.

Zentralbankcheflehnt Rücktritt ab

Der Geschäftsführer der Verlegergesellschaft, István Száraz, lehne es bisher ab, die Angelegenheit zu kommentieren. Er gilt allerdings seit einigen Jahren als Fidesz-nah, was den Überraschungseffekt etwas relativieren soll. Ebenfalls ein Begünstigter der Stiftungsaufträge war offenbar Lörinc Mészáros, einer der besten Freunde des Premiers und der Bürgermeister von Felcsút, jenem Ort, wo Viktor Orbán aufwuchs. Neben ihm profitierte eine ganze Reihe anderer Geschäftsmänner aus allen Branchen von der Großzügigkeit der Zentralbankstiftungen, wie die veröffentlichten Dokumente zeigen. Die Liste liest sich fast wie ein Katalog der Günstlinge der Orbán-Regierung, die nicht erst jetzt, sondern seit Jahren etliche öffentliche Ausschreibungen und Projekte aus EU-Geldern gewinnen.

Die Oppositionsparteien fordern seit Montag vehement den sofortigen Rücktritt des MNB-Präsidenten, sowie eine lückenlose juristische Aufklärung der Affäre. Letzteres dürfte eher Wunschdenken bleiben: Die Ehefrau des Generalstaatsanwalts Péter Polt ist die Aufsichtsratsvorsitzende einer der Zentralbankstiftungen. Ersteres gilt als wahrscheinlichere Variante, obwohl Matolcsy einen Rücktritt ablehnt.