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Das schottische Unabhängigkeitsreferendum inspiriert separatistische Strömungen.
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Edinburgh/Belfast/Cornwall. Auf einmal wollen alle Teile Britanniens ernst genommen werden. Mit ihrem Aufbegehren gegen London haben Schottlands Nationalisten den Rest der Britischen Inseln angesteckt. Überall wird plötzlich mehr Selbstbestimmung, mehr Unabhängigkeit von Westminster gefordert - egal, welches Ergebnis das schottische Referendum nächste Woche bringt. Im Norden Englands, wo man sich fast so weit von London entfernt fühlt wie die schottischen Nachbarn, wächst der Ruf nach mehr lokalen und regionalen Befugnissen. Yorkshire, so bevölkerungsstark wie Schottland, beansprucht größere Eigenständigkeit. Das walisische Parlament will endlich mehr Gewicht (und wirkliche Finanzhoheit) haben. Und selbst im kleinen Cornwall verlangt man nunmehr "Devolution", die Übertragung zusätzlicher Macht.
Für Wales - siehe England
Jenseits der Irischen See fragt sich so mancher, ob Nordirland der nächste Kandidat für eine Abspaltung von England werden könnte. Irlands Republikaner fühlen sich inspiriert von der "schottischen Rebellion". Ein Ja Schottlands zur Abnabelung von London am Donnerstag nächster Woche, kalkulieren die republikanischen Führer, brächte sie einem eigenen, nordirischen Referendum näher - und so irgendwann der ersehnten Wiedervereinigung mit der irischen Republik.
Weniger versessen auf komplette Trennung von England sind die Waliser in ihrem wuseligen Fürstentum. Wales war natürlich immer stärker verwoben mit den englischen Nachbarn. "Die Menschen in Wales haben nie dasselbe bittere Gefühl der Unterwerfung durch eine fremde Herrscherklasse gehabt wie etwa die Iren", meint Lord Morgan, Historiker am King’s College London.
Gewiss, räumt der walisisch-stämmige Professor ein, seien auch die Waliser ihren englischen Mitbürgern oft als eigentümlich, um nicht zu sagen: als minderwertig erschienen - eben als eine etwas kuriose Randnation mit einem komischen Akzent. Wer früher im Nachschlagewerk der "Encyclopaedia Britannica" etwas über Wales finden wollte, lacht Lord Morgan, sei häufig auf den Verweis gestoßen: "Für Wales - siehe England". England war immer die alles dominierende Nation.
Selbst der kleine, vom schottischen Schlachtenlärm geweckte walisische Drache aber schaut sich nun, da die große Frage gestellt ist, verwundert um. Mit seinen radikal-demokratischen und kirchlichen Traditionen, seiner alten Labour-Basis, seiner Zweisprachigkeit und seiner pro-europäischen Haltung würde Wales bei einem Abgang Schottlands den großen keltischen Bruder im Bund schmerzlich vermissen.
Ein Wunsch nach schärferer Abgrenzung vom übermächtigen England würde in einem solchen Fall nicht überraschen, meint Lord Morgan. Schon jetzt verlangt Cardiff eine Aufwertung seines Parlaments, das bis jetzt über weniger Rechte verfügt als die Volksvertretung in Edinburgh. Vielleicht, meint Morgan, werde es bald heißen: "Für Wales - siehe Schottland". Wer wisse das schon? Bezeichnend ist, dass nun sogar eine so harmlose Ecke wie Cornwall, das kleine Ferienparadies am Südwest-Zipfel Englands, sich nach mehr Gehör, nach mehr Eigenständigkeit streckt. Vor wenigen Wochen erst ist "Cornish" als eigene Identität, als eine der offiziellen Minderheits-Kulturen Britanniens, anerkannt worden. Vor ein paar Jahren noch galt die alte Sprache der Grafschaft als ausgestorben. Jetzt feiert sie überraschend Auferstehung. 41 Prozent aller Schulkinder in Cornwall haben sich bei der letzten Zählung als "Cornish" bezeichnet. 2009 waren es nur 34 Prozent. Zweisprachige Straßenschilder sind heute oft schon die Regel. Hier und da sieht man die Flagge St. Pirans, das schwarz-weiße Banner Cornwalls, wehen. Selbst eine Nationalpartei (namens Mabyon Kernow) gibt es. Sie strebt ihr eigenes Mini-Parlament an - auch wenn die Chance dafür letztlich so klein ist wie sie selbst.
Schottland als Vorbild
Ernster zu nehmen sind neue Selbstbestimmungs-Bestrebungen in den dicht bevölkerten alten Industriegebieten Nordenglands. Diese Bemühungen sind umso bemerkenswerter, als noch vor zehn Jahren das Angebot einer gewählten Körperschaft für den englischen Nordosten von dessen Bewohnern mit massiver Mehrheit abgelehnt wurde. Während Schottland, Nordirland und Wales die Gelegenheit zur Selbstverwaltung mit beiden Händen am Schopf ergriffen, haben die alten Provinzen Englands nie recht gewusst, was sie mit eigenen regionalen Körperschaften sollten - und sich bis heute lieber von London verwalten lassen. Das aber könnte sich jetzt auch noch ändern. Vor allem Schottlands unmittelbare Nachbarn schauen, im Zeichen des Referendums, zunehmend neidisch "über den Zaun". Die schottische Referendums-Schlacht, erklärt Paul Salveson von der Hannah-Mitchell-Stiftung für nordenglische Selbstverwaltung, habe dem Ruf nach Eigenständigkeit im englischen Norden neue Impulse verliehen: "Die Suche der Schotten nach Unabhängigkeit hat uns erst richtig bewusst gemacht, wie weit an der Peripherie Englands wir liegen." Auch in den großen städtischen Bastionen des Nordens - in Leeds, Liverpool, Manchester, Newcastle zum Beispiel - hat eine neue Debatte darüber eingesetzt, wie man sich vom Südosten, vom mächtigen London, unabhängiger machen könne. Es ist eine umso dringlichere Debatte geworden, als die Themse-Metropole in den letzten Jahren immer mehr Wirtschafts- und Finanzkraft an sich gezogen hat.
Dezentralisierung ist ein Wort, das man jetzt häufiger als früher hört in den Provinzen. Der Großraum Manchester, mit höherer Wirtschaftskraft als Wales, hätte nach den Worten seines Stadtrats-Vorsitzenden Sir Richard Leese, heute ganz gern "ein bisschen von dem", was für Wales selbstverständlich geworden ist. "Der Geist ist endgültig aus der Flasche", meint Leese zur neuen Entwicklung. Schottland habe England den Weg gewiesen: "Wir sind auf einem etwas langsameren Pfad zur Devolution." Neue Konstrukte, von engerer urbaner Zusammenarbeit bis hin zu einem feierlichen "Rat des Nordens", sind im Gespräch, in den betreffenden Regionen. Neue, föderative Strukturen werden erwogen, wie sie der europäische Kontinent seit alters her kennt. Der wohl am stärksten zentralisierte Staat der westlichen Welt scheint so - sehr spät - zur Notwendigkeit radikaler Reform erwacht zu sein. Bald, prophezeien politische Beobachter, würden die Britischen Inseln sich mit oder ohne Schottland in einen Bundesstaat verwandeln.
Wozu noch England?
Das große Thema, der Elefant im Raum, ist dabei zweifellos England als Ganzes. Da "die drei anderen Nationen" ihre eigenen Parlamente hätten, brauche auch England eine separate Vertretung, finden manche Politiker im Tory- und im Ukip-Lager. Den meisten Engländern ist das bisher nicht dringlich gewesen. Aber die neue Entwicklung um Schottland hat den Ruf verstärkt. Schon lang haben sich Westminster-Politiker gefragt, warum schottische Abgeordnete im Unter- und Oberhaus in London über englische Angelegenheiten mitbestimmen dürften, während englische Abgeordnete nicht bei schottischen Affären mitreden dürfen. Sollte Schottland tatsächlich unabhängig werden, würde Westminster seine schottischen Abgeordneten verlieren. Das würde England im dann verbleibenden Rumpf-Britannien noch übermächtiger machen. Schon jetzt verfügt es über 84 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein englisches Parlament, wenn es ein solches je gäbe, wäre dann fast identisch mit dem britischen. Das wirft Fragen auf - nicht zuletzt, wer dann im Palast von Westminster sitzen sollte und wie zwei solche Volksvertretungen miteinander auskommen könnten.
Witzigerweise ist auch Schottland selbst von dieser Dynamik nicht unberührt geblieben. In Reaktion auf den Referendums-Rummel verlangen neuerdings Schottlands nördliche Inseln ihrerseits Unabhängigkeit - von Edinburgh. Die Shetlands und die Orkneys fürchten nämlich, im Falle des Auseinanderbrechens Großbritanniens alte Privilegien zu verlieren und im neuen Schottland weniger Gewicht zu haben als im größeren Verbund des Königreichs. Ginge es nach ihnen, wäre für sie eine Sonderstellung fällig - als freie Bundesgenossen der Briten. Gegebenenfalls, wie die englischen Kanalinseln, als halb-unabhängige Insel-Gruppe mit speziellem Kron-Status. Oder aber als Bewahrer des Wikinger-Erbes, in enger Anlehnung an Norwegen. Ein Shetländer hat schon seine eigene "Republik Forvik" ausgerufen. Er hofft, ihr Räderwerk mit "Shetlands Öl" (nicht Schottlands Öl) zu schmieren.