Minderwertigkeitsgefühle zeigt der neue EU-Staat Estland keine. Nach einem halben Jahr Mitgliedschaft präsentiert sich das Land mit seinen 1,4 Millionen Menschen selbstbewusst: Vorwürfe Frankreichs wegen Verzerrung des Steuerwettbewerbs weist es ebenso zurück wie die Forderung Moskaus nach größeren Rechten für die russische Minderheit.
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Zur Einführung des Euro sind es noch zwei Jahre. Doch der Wettbewerb für das Design der Scheine ist bereits so gut wie abgeschlossen. Im November soll über die besten zehn Vorschläge öffentlich abgestimmt werden. Estland hält an seinem Ziel fest, 2007 der Eurozone beizutreten - wahrscheinlich als erster der drei baltischen Staaten.
"Das Wirtschaftswachstum, die Preisstabilität und die Glaubwürdigkeit des Marktes sprechen dafür", ist Märten Ross, stellvertretender Direktor der Estnischen Bank, überzeugt. Zwar sei die "schwer kontrollierbare" Inflation in den letzten Monaten gestiegen und liege über dem EU-Schnitt. Dennoch wirkte sich der EU-Beitritt laut Ross nicht mit sprunghaften Preissteigerungen aus. Das BIP-Wachstum betrug im ersten Halbjahr 6,3 Prozent. Und von einem Budgetdefizit kann nicht einmal die Rede sein: Im Vorjahr erwirtschaftete Estland einen Überschuss von fast 3 Prozent.
Auch die Europäische Zentralbank bezeichnet die wirtschaftliche Entwicklung Estlands als "erstaunlich". Warnungen, das sich ein Beitritt zur Euro-Zone um ein Jahr verzögern könnte, betreffen daher eher Lettland mit seinen steigenden Inflationsraten und dem wachsenden Budgetdefizit. Das der Nachbarstaat auch Estlands Ambitionen behindern könnte, glaubt Vizedirektor Ross aber nicht.
Wie schon vor seinem EU-Beitritt präsentiert sich das baltische Land selbstbewusst und streicht seine Eigenständigkeit hervor. Staatspräsident Arnold Rüütel und Premier Juhan Parts sprechen sich gegen eine Zentralisierung der Europäischen Union und allzugroße Einflussnahme Brüssels auf nationale Politiken aus. "Wozu sollten wir sonst ein eigenes Parlament haben?" fragt Parts. Verteidigt wird ebenso die Steuerpolitik, die besonders von Frankreich angegriffen wird. In Estland gilt ein einheitlicher Einkommenssteuersatz, die sogenannte Flat tax. Die Steuer soll von 26 auf 20 Prozent bis 2007 gesenkt werden; die Körperschaftssteuer auf nicht entnommene Gewinne wurde bereits vor Jahren abgeschafft. Ein Wettbewerb der Steuersysteme sei gut für Europa, argumentiert Ministerpräsident Parts. Die Kluft zwischen arm und reich konnte die Regierung allerdings noch nicht vermindern. Vom wirtschaftlichen Aufschwung bleiben Teile der Bevölkerung unberührt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10 Prozent, das Durchschnittsgehalt beträgt 430 Euro. Bis zu 18 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Etliche von ihnen gehören der russischen Minderheit an, die rund 30 Prozent der Bevölkerung stellt. Moskau wirft Estland ebenso wie Lettland immer wieder Benachteiligung der Minderheiten vor: Viele der Russinnen und Russen haben nicht die Staatsbürgerschaft Estlands, dürfen nicht wählen und fühlen sich auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Für Tallinn ist dies Propaganda.
"Den Russen geht es hier besser als in Russland", sagt die sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete Katrin Saks, früher zuständig für Integration. Estlands Minderheitengesetze entsprechen allen europäischen Standards. Das Kommunalwahlrecht erlangen sie nach fünf Jahren Aufenthalt. Eine Hauptursache für die größere Armutsgefährdung sieht Saks in der oft geringen Bereitschaft, die estnische Sprache zu erlernen. Ohne Sprachkenntnisse gebe es eben meist keinen guten Job, und ohne Job gebe es kein Geld.