Zum Hauptinhalt springen

Selbstzerstörung des Gehirns

Von Alexandra Grass

Wissen

MS kann bisher nur behandelt, nicht geheilt werden. | Es gibt jetzt neuen Therapieansatz und neues Medikament. | Wien. Multiple Sklerose (MS) stellt neben der Epilepsie die zweithäufigste neurologische Erkrankung bei jungen Erwachsenen dar. In Österreich gibt es mehr als 8000 Betroffene, die sich mit dem Risiko einer zukünftigen Behinderung konfrontiert sehen. Frauen sind mit einem Verhältnis von 2:1 wesentlich häufiger betroffen als Männer.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Bei MS handelt es sich um eine chronische Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), bei der fehlgesteuerte Abwehrzellen Nervenbahnen angreifen und dabei vor allem deren Isolationsschicht, das Myelin, schädigen beziehungsweise zerstören. Die Isolierfähigkeit des Myelins gewährleistet eine schnelle Übertragung der Signale, die vom Gehirn über das Rückenmark zum Körper gesandt werden. Durch mehrere (multiple) Entzündungsvorgänge wird die Myelinhülle angegriffen. Nach der Rückbildung der Entzündung wird die zerstörte Isolierschicht durch ein Narbengewebe ersetzt und ist damit nicht mehr funktionstüchtig, erklärte Univ.-Doz. Wolfgang Kristoferitsch, Vorstand der Neurologischen Abteilung im Wiener SMZ-Ost, im Rahmen eines Vortrags. Diese gestörte Informationsübermittlung äußert sich anfangs in extremer Müdigkeit und Erschöpfbarkeit sowie Gefühlsstörungen und Sehbeeinträchtigungen, in späterer Folge auch in Behinderung und Invalidität. Bei häufiger Degeneration der Nervenzellen kommt es zu einer Atrophie - das Volumen von Gehirn und Rückenmark verringert sich.

Die Erkrankung zeigt sich dabei in sehr variablen klinischen Verläufen und kann bei den Betroffenen sehr verschiedene Ausmaße und Symptome annehmen. Der Verlauf der Krankheit ist auch nicht vorhersehbar.

Zumeist treten

Krankheitsschübe auf

Bei den meisten Betroffenen tritt MS in Krankheitsschüben auf. Von Schüben spricht man, wenn entweder neue oder bekannte Krankheitszeichen wiederholt auftreten, beziehungsweise sich bestehende Merkmale verschlechtern. Bei etwa der Hälfte der Patienten bildet sich ein Schub wieder komplett zurück, bei einem Viertel nur teilweise und bei einem weiteren Viertel gar nicht. Die chronisch fortschreitende Form der MS äußert sich in einer kontinuierlich zunehmenden Störung. Bleiben Patienten unbehandelt, wird ein durch Schübe geprägter Krankheitsverlauf bei rund der Hälfte der Betroffenen nach 10 bis 15 Jahren chronisch, nach 15 bis 30 Jahren zeigen sich deutliche Behinderungen.

Da die Ursachen noch nicht bekannt sind, kann MS lediglich behandelt, aber nicht geheilt werden. Entsprechende Medikamente können eine Zunahme der Entzündungsherde verzögern und die Symptome abschwächen. Doch gibt es derzeit auch noch keine allgemein gültige Therapie. Während eines Schubs wird Cortison hochdosiert verabreicht, um die Entzündung so rasch wie möglich in den Griff zu bekommen.

Helfer-T-Zellen leiten

Immunattacke ein

Erst jüngst haben allerdings Forscher der Universität Zürich einen neuen Therapieansatz präsentiert. Die eigentlichen Täter, die die Immunattacke auf das Gehirn einleiten, sind bestimmte weiße Blutzellen, so genannte Helfer-T-Zellen. Diese werden von Verräterzellen, die das Forscherteam letztes Jahr identifiziert hat, darauf programmiert, das Gehirn anzugreifen. Zur Kommunikation verwenden die Zellen sogenannte Zytokine, hormonähnliche Botenstoffe, die das Verhalten der autoaggressiven Immunzellen beeinflussen. Indem nun die Forscher einen relevanten Rezeptor auf der Zelloberfläche der Verräterzellen blockierten, verhinderten sie das aggressive Verhalten der Helfer-T-Zellen gegen das Nervensystem.

Einiges erwarten sich die Fachleute auch von dem neuen Medikament Natalizumab. Dabei handelt es sich um monoklonale Antikörper, die das Eindringen von aggressiven Zellen in das Zentralnervensystem hemmen. Klinische Studien ergaben eine deutliche Reduktion der Krankheitsschübe und der fortschreitenden Behinderung. Eingesetzt werden kann dieses Medikament bei Patienten, die auf eine immunmodulierende Behandlung nicht ansprechen oder an stark fortschreitender MS leiden.

Allerdings wurde das Präparat mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer fortschreitenden Gehirnentzündung (Progressive Multifokale Leukoenzephalopathie - PML) in Verbindung gebracht. Ein Risiko, das gering sei, aber vorsichtigen Einsatz verlangt, wie Kristoferitsch betonte. Schon im Frühstadium müsste entschieden werden können, wie intensiv eine Behandlung sein muss, wünscht sich der Mediziner, doch gibt es für MS keinen Marker.

Weder ansteckend

noch tödlich

Einzig und allein weiß man, dass MS weder ansteckend oder tödlich ist und nicht unmittelbar vererbt wird. Allerdings kann die Empfänglichkeit an die Nachkommen weitergegeben werden. Während laut einer US-Studie in 85 Prozent der Fälle die Krankheitsursache nicht bekannt ist, ist bei 15 Prozent der Patienten auch ein Familienmitglied aus der folgenden oder vorherigen Generation betroffen.

Dies weist auf eine Beteiligung von Erbfaktoren hin. Bislang ist allerdings kein einzelnes Gen bekannt, das die Veranlagung für die Krankheit beeinflusst. Neurologen vermuten, dass eine Kombination von genetischen und umweltbedingten Faktoren Multiple Sklerose auslöst. Kristoferitsch wies auf Beobachtungen hin, wonach MS in kälteren Regionen öfter auftritt, und sieht als möglichen Faktor auch Infektionen im Kindesalter an.