)
Vor einem Jahr hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Amt angetreten. Der Ex-Kabarettist rührte in Kiew ordentlich um und blieb lange populär. Die Corona-Krise wird für ihn und das Land nun aber zur echten Belastungsprobe.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es hat alles so einfach ausgesehen. So unwiderstehlich. Zumindest im Fernsehen, zumindest in der TV-Serie "Diener des Volkes", in der der Kabarettist Wolodymyr Selenskyj einen Geschichtslehrer spielte, der völlig überraschend zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Mit entwaffnender Ehrlichkeit, aber auch Schlitzohrigkeit stellte sich Selenskyj darin gegen die korrupten Oligarchen seines Landes, gewann und verlor, wurde abgesetzt und am Ende auf seinen Posten zurückgerufen. Aus der armen, von Korruption zerfressenen Ukraine machte er in Windeseile ein prosperierendes, ultramodernes, selbst vom Westen beneidetes Land.
Dass es in der schnöden Realität nicht so einfach werden würde wie in der TV-Serie, dürfte auch den meisten Ukrainern klar gewesen sein, die Selenskyj mit einem überzeugenden Votum ins Amt hievten. Vor einem Jahr, am 20. Mai, wurde der jugendlich wirkende 42-Jährige als Präsident vereidigt. Schon die Angelobung wirkte, als hätte man Frischluft in einen abgestandenen Saal gelassen. In den dann folgenden Monaten sprachen viele Ukrainer vom "Turbo-Präsidenten", der mit der absoluten Mehrheit für seine frisch aus der Taufe gehobene Partei "Diener des Volkes" in Kiew den Takt vorgab und Reformgesetze rasch durchs Parlament brachte. Sogar bei Selenskyjs Hauptwahlversprechen, der Beendigung des Krieges im Osten der Ukraine, schien sich etwas zu bewegen. Auch die Ukraine-Affäre um den Anruf von US-Präsident Donald Trump beschädigte die Popularität des Präsidenten bei den Ukrainern nicht.
Probleme stauen sich
Doch jetzt, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, ist Selenskyj in der Realität angekommen. Zwar liegt er im Vertrauensrating noch bei 38 Prozent. Für einen ukrainischen Präsidenten ist das ein guter Wert. Insbesondere im Südosten des Landes, aus dem er stammt, ist Selenskyj immer noch populär.
Die über 70 Prozent, mit denen er gewählt wurde, erreicht er allerdings nicht mehr. Und der Trend geht eindeutig nach unten. Was auch kein Wunder ist, denn mittlerweile stauen sich in Kiew die Probleme: So konnte Selenskyj bisher sein (wenig realistisches) Versprechen, den Krieg zu beenden, nicht einlösen. Trotz der Bemühungen des Staatschefs, der auf Moskau zuging, stehen sich die Streitparteien im Donbass weiterhin unversöhnlich gegenüber, sterben an der Front immer noch Menschen, darunter auch Zivilisten. Im Bereich der Korruptionsbekämpfung, einem weiteren, ebenfalls enorm schwierig umzusetzenden Wahlversprechen Selenskyjs, gibt es nun zwar zahlreiche Behörden und Einrichtungen, die korrupte Geschäftsleute und Politiker verfolgen sollten. Was es bisher aber nur selten gibt, sind zählbare Erfolge, sprich Verurteilungen.
Schwaches Gesundheitssystem
Dass es die nicht gibt, hängt allerdings nicht nur daran, dass Selenskyj übertriebene Hoffnungen geschürt hat, die er zwangsläufig enttäuschen musste. Oder an dem Drahtseilakt, seine aus dem Nichts aus der Taufe gehobene Fraktion zusammenzuhalten. Es liegt auch an dem enorm schwierigen Umfeld, dem der Präsident durch die Corona-Krise ausgesetzt ist. Denn diese Krise trifft die Ukraine an ihren beiden Achillesfersen: der schwachen, reformbedürftigen Wirtschaft, die erst einmal zu Kräften kommen muss. Und dem mindestens ebenso schwachen, von Korruption geprägten Gesundheitssystem. Nur rund 600 Beatmungsgeräte gibt es in Europas zweitgrößtem Flächenstaat, in dem rund 42 Millionen Menschen wohnen. In der ganzen Ukraine kann man derzeit nur etwa 9000 Intensivpatienten gleichzeitig versorgen - ebenfalls eine erschreckend niedrige Zahl.
Selenskyj hatte daher keine andere Wahl, als möglichst früh einen harten Lockdown zu verhängen. Und die von der Johns-Hopkins-Universität angegebenen Zahlen stellen der Ukraine kein schlechtes Zeugnis aus. Mit über 18.000 Infizierten und 535 Toten steht das osteuropäische Land nicht schlecht da.
Wenig aussagekräftige Zahlen
Zumindest offiziell. Denn an der Aussagekraft dieser Zahlen zweifeln viele. Rund 233.000 Corona-Tests hat man bisher durchgeführt - eine Zahl, die westliche Staaten wie Deutschland in wenigen Tagen erreichen. Die Dunkelziffer dürfte also wesentlich höher sein. Alles Umstände, die es wenig ratsam erscheinen lassen, dass die Ukraine ihren Lockdown allzu früh lockert - zumal das Virus derzeit in den Nachbarländern Belarus und Russland grassiert.
Doch das Runterfahren der Wirtschaft, das selbst reiche Staaten in West- und Mitteleuropa oder die USA enorm belastet, hat in der Ukraine noch katastrophalere Folgen. Gut die Hälfte der Ukrainer hat wegen des täglichen Existenzkampfs, dem man ausgesetzt ist, kaum finanzielle Reserven, um die Krise durchzustehen. Zwar hat man eine gewisse Routine im Umgang mit Krisen - schon die Finanzkrise 2009 und der Beginn des Krieges im Donbass 2014/15 und das damit verbundene Kappen der Verbindungen zu Russland haben die Wirtschaft des Landes hart getroffen.
Tiefe Rezession droht
Dennoch sind die Zahlen, die jetzt nach außen dringen, alarmierend. So gibt es Berichte, wonach der Staat im April nur 19 Prozent der Steuereinnahmen lukrieren konnte, die er gewöhnlich einnimmt. Hilfen vom Staat können ukrainische Kleinunternehmer also kaum erwarten. Es droht ein Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen fünf und 10 Prozent, eine Rezession so tief wie 2014/15. Auch die Staatsschuldenquote, die vor der Corona-Krise bereits unter 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gedrückt werden konnte, dürfte sich wieder an die 60 Prozent annähern. Am Ende des Jahres, so Beobachter, dürfte in der Staatskasse ein Riesenloch klaffen.
Die Ukraine wird damit wieder einmal zum Fall für den Internationalen Währungsfonds (IWF) und andere Geldgeber. Doch selbst die ein bis zwei Milliarden US-Dollar, die der IWF der Ukraine zur Verfügung stellen kann, sind in dieser Krise nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Selenskyj wird mehr aufbieten müssen als seinen schauspielerischen Charme, um genug Geldgeber für die Ukraine aufzutreiben. Und auch bei den Ukrainern dürften die kommunikativen Fähigkeiten des 42-Jährigen bald nicht mehr für Mehrheiten ausreichen - wenn er nicht, einem Zauberkünstler gleich, einen Ausweg aus dem Dilemma findet.