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Selten und doch leiden Millionen

Von Alexandra Grass

Wissen
Wer aus der Reihe fällt, dem kann immer besser geholfen werden.
© fotolia/Jürgen Priewe

Symptomdatenbank steht Ärzten zur Verfügung, Aktionsplan ist im Endspurt.


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Wien. Sehr häufig beginnt es schon im Kindesalter. Und auch die Gene spielen in den meisten Fällen eine große Rolle. Die Rede ist von Seltenen Erkrankungen (auch "Rare Diseases" oder "Orphan Diseases"), die nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für Medizin und Arzneimittelforschung eine große Herausforderung darstellen.

Selten ist eine Erkrankung dann, wenn nicht mehr als eine Person von 2000 Menschen betroffen ist. Auf den ersten Blick scheint dies wirklich gering. Doch in Summe gesehen sind es mehr als 400.000 Österreicher - in weiterer Folge rund 27 Millionen Europäer -, die unter einer der 8000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen leiden. Die Hälfte davon betrifft Kinder.

Seltene Erkrankungen sind oft fortschreitend und lebensbedrohlich, nahezu unbekannt, schwer zu diagnostizieren und zu behandeln und mit hohen Kosten verbunden.

Mukoviszidose und Progerie

Zu den bekanntesten zählt etwa die Mukoviszidose. Die auch zystische Fibrose genannte genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung führt aufgrund einer vermehrten Bildung von klebrigem Schleimsekret zu chronischen Entzündungen der Atemwege und zu Verdauungsstörungen. Beim vorzeitigen Altern, der sogenannten Progerie, sorgt eine Genveränderung für eine Schwächung der Zellwände. Forscher gehen davon aus, dass die Erbsubstanz frühzeitig abgebaut wird. Schon im Kindesalter beginnt eine rapide Alterung.

In Wien wurde jetzt ein Zentrum für die interdisziplinäre Erforschung und Behandlung dieser Seltenen und nicht diagnostizierten Erkrankungen ins Leben gerufen (Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases/CeRUD). Um die bestmögliche Versorgung bieten zu können, sollen dort Ressourcen und Kompetenzen gebündelt werden. "Viele der betroffenen Menschen sind verzweifelt und haben schon eine Odyssee hinter sich, ohne dass ihnen eine genaue Diagnose und Therapie geboten werden konnte. Für sie wollen wir Anlaufstelle sein", betont Kaan Boztug vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (Cemm) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Wiener Zentrum wird das Cemm mit den Unikliniken für Dermatologie sowie Kinder- und Jugendheilkunde kooperieren.

Wie die Meduni berichtet, hat die Forschergruppe um Boztug zuletzt einen neuen Gendefekt für eine monogenetische Form einer entzündlichen, chronischen Darmerkrankung entdeckt, die mit einem Immundefekt kombiniert ist. Auch diese Erkrankung kann künftig besser therapiert werden. Im Rahmen eines Eröffnungssymposiums soll das CeRUD am kommenden Freitag, dem 28. Februar, dem "Welttag für Seltene Erkrankungen", der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Ab sofort wird auch eine digitale Symptomdatenbank Allgemeinmediziner bei der Diagnosestellung unterstützen. Bisher dauert es im Schnitt vier bis fünf Jahre bis zur Erstellung einer korrekten Diagnose. Die Datenbank der Initiative für Allgemeinmedizin und Gesundheit (Am Plus) soll mithelfen, Erkrankungen schon frühzeitig zu erkennen, auszuschließen beziehungsweise einzugrenzen. Derzeit sind dort 21 Krankheitsbilder sowie Verfahrensweisen aufgeschlüsselt. Mit Unterstützung von Sponsoren und Selbsthilfegruppen wird die Datenbank laufend ergänzt.

Nationaler Aktionsplan

Auch die Pharmafirmen arbeiten auf Hochtouren. Seit dem Jahr 2000 wurden knapp 1000 Wirkstoffe erforscht, davon mehr als 60 in der EU als Arzneimittel zugelassen. Durch die kleinere Patientenzahl ist die Generierung von Forschungsdaten begrenzt und die Durchführung von klinischen Studien erschwert.

Eine entsprechende europäische Verordnung bietet den Unternehmen für die Waisenkinder unter den Arzneimitteln reduzierte Zulassungsgebühren sowie ein zehnjähriges exklusives Vermarktungsrecht, wenn ein Medikament für eine Krankheit entwickelt wird, an der nicht mehr als fünf von 10.000 EU-Bürgern leiden. Wie die Pharmig, der Verband der pharmazeutischen Industrie, betont, fördert dies die Forschungs- und Entwicklungsleistungen der Unternehmen.

Seitens der EU wurden alle Mitgliedsstaaten im Jahr 2008 dazu verpflichtet, bis Ende 2013 einen Nationalen Aktionsplan für Seltene Krankheiten zu erstellen. Gefordert ist die Verbesserung des Bewusstseins darüber, die Einrichtung eines umfassenden Informationssystems, die Verbesserung von Diagnostik und Zugang zu Therapien sowie die Anerkennung der Leistung der Selbsthilfegruppen.

Im Gesundheitsministerium liegt seit Ende des Vorjahres ein entsprechender Entwurf zur Begutachtung auf. Der Dachverband "Pro rare Austria" hat die Ausarbeitung des Aktionsplans maßgeblich unterstützt. Vier sehr wichtige von neun Handlungspunkten sind die Verbesserung der medizinischen und klinischen Versorgung der von Seltenen Erkrankungen Betroffenen, die Verbesserung der Diagnostik, die Einrichtung ständiger Beratungsgremien sowie die Förderung der Forschung in diesem Bereich.

Forschungsgelder sind vermehrt nötig, denn allem voran sind es die moderne molekularbiologische Diagnostik und die laufende Identifizierung der genetischen Ursachen für angeborene Erkrankungen, die den Betroffenen bessere Chancen schaffen.