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Seltsame Allianzen

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Die innenpolitischen Folgen des Afghanistan-Abzugs sind für das Weiße Haus noch lange nicht ausgestanden - auch wenn die Frontlinien anders verlaufen als gewohnt.


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Egal, wo auf der Welt: Allzu ausgiebiges Lob von der falschen Seite kann für jeden Politiker gefährlich werden. Joe Biden, wiewohl seit über vier Jahrzehnten im Geschäft und seit Ende Jänner Präsident der Vereinigten Staaten, bildet keine Ausnahme von dieser Regel. "Danke, Präsident Biden, für das Halten eines Versprechens, das Trump gemacht hat, aber aufgab, sobald er im Amt war": Wiewohl eine faktisch richtige Darstellung der Entscheidung des Weißen Hauses, alle amerikanischen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, sorgte sie jetzt zum Abschluss nämlichen Unternehmens vor allem innerhalb der linksliberalen Reichshälfte für heftige Diskussionen.

"Eine Katastrophe"

Was weniger am Inhalt als an der Botschafterin liegt. Seit sie in den Neunzigerjahren für ihre Angriffe auf den damaligen Präsidenten Bill Clinton und seine Frau Hillary bekannt wurde, gilt Ann Coulter den Demokraten quasi als weibliche Ausgabe des Leibhaftigen. Als Fernsehkommentatorin, Kolumnenschreiberin und Autorin von bisher 13 Büchern, die alle im Grunde nur eines zum Inhalt haben - jede/r Liberale ist ein unterbelichteter Feigling, jede/r Konservative hat ungeachtet jedweder das Gegenteil belegenden Fakten immer recht - hat es die 59-jährige Anwältin zu Prominenz und Geld gebracht.

Erst als die Speerspitzen der "Make America Great Again"-Bewegung am 6. Jänner das Kapitol stürmten und, unter anderem, einen Polizisten ermordeten, distanzierte sie sich nachhaltig von ihnen wie von Donald Trump, den sie zuvor jahrelang wörtlich "meinen Führer" genannt hatte und schimpfte ihn öffentlich wörtlich "eine feige Pussy".

So weit, einen Präsidenten zu loben, der den Demokraten angehört, war sie aber noch nie zuvor gegangen. Möglich machte das erst der von praktisch allen US-Medien wahlweise als angebliches "Debakel", "Desaster", oder "totale Niederlage" eingestufte Rückzug der USA vom Hindukusch, aber allem voran die mit ihm einhergehenden Rahmenbedingungen.

Während im Zuge der Operation Allied Refuge innerhalb von knapp eineinhalb Monaten 123.000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen wurden - eine Luftbrücke, die keine historischen Parallelen kennt -, reproduzieren fast alle US-Fernseh-, Radio- und Online-Kanäle von angesehen bis windig heute fast nur ein Narrativ: jenes, dass der Abzug eine vermeintliche Katastrophe für das Ansehen und die Stellung Amerikas in der Welt darstelle.

Die Fakten: Von rund 200 Opfern, die im Umfeld des internationalen Flughafens von Kabul in den vergangenen Wochen ihr Leben verloren, waren fast alle Einheimische. Bei einem Bombenanschlag von Isis Korasan, dem lokalen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat, kamen 13 US-Soldaten und drei Briten ums Leben.

Die Reaktion zahlreicher Republikaner, angeführt von den prominenten Aushängeschildern Lindsey Graham, dem langjährigen Senator von South Carolina und Josh Hawley, seinem Kollegen aus Missouri: All das rechtfertige nicht weniger als eine Amtsenthebung Bidens wegen "Vernachlässigung seiner Pflicht als Oberbefehlshaber".

Zwei Pole

Nachdem sich auch im Abgeordnetenhaus dutzende Konservative dieser Meinung anschlossen, fühlte sich Mitch McConnell, der Minderheitsführer im Senat, bemüßigt, die Sache nicht zu weit zu treiben. Seine Absage an ein Amtsenthebungsverfahren Bidens begründete er indes nicht damit, dass er die Idee prinzipiell für falsch halte, sondern mit der Chancenlosigkeit eines solchen wegen der Mehrheitsverhältnisse in beiden Kongresskammern.

Was die Folgen des Afghanistan-Abzugs für Biden und seinen Außenminister Anthony Blinken, dem das Weiße Haus in den vergangenen Wochen die Hauptlast der Krisenkommunikation übertragen hat, indes noch schwerer macht als die politischen Gegner, ist das mediale Umfeld. Wie das politische finden sich darin im Amerika des Jahres 2021 prinzipiell nur zwei Pole: mehr oder weniger linksliberal und rechts bis rechtsextrem.

Was die Umstände und die Sinnhaftig- beziehungsweise, je nach Standpunkt, -losigkeit des Afghanistan-Abzugs angeht, bilden sich derweil die seltsamsten Allianzen. Während auf dem Kabelsender MSNBC, im öffentlich-rechtlichen Radio NPR, auf den Seiten der "New York Times" oder auf denen von Magazinen wie "The Nation" humanistisch bewegte Kommentatoren die Todesopfer am Kabul Airport beklagen, bekommt die Biden-Administration von den Medien der Rechten (Fox News, Ben Shapiro, Breitbart et cetera) ebenfalls ihr Fett ab - nur, wie üblich, um mindestens drei Tonspuren schriller und schärfer.

Allgemeine Ratlosigkeit

Was indes beide Seiten eint, ist die fortschreitende Nährung der Illusion, dass der Abzug, in welchem Zeitraum auch immer, ohne jegliche Probleme vonstatten hätte gehen können. Hinzu gesellt sich eine allgemeine Ratlosigkeit, was die historische Einordnung des Moments betrifft.

Verstiegen sich viele Analysten zu Beginn der Evakuierung auf den bestenfalls hinkenden Vergleich zum Vietnam-Krieg, sind sie bei ihrer verzweifelten Suche nach einer zeitgeschichtlichen Parallele für die jetzige Situation nunmehr endgültig auf Grundschulniveau angelangt: dem vom damaligen Präsidenten Jimmy Carter widerwillig autorisierten und dramatisch fehlgeschlagenen Geiselbefreiungs-Drama im Iran 1979, bei dem acht US-Soldaten umkamen.

Was das mit Afghanistan 2021 zu tun haben soll, erschließt sich weder bei Schatten noch bei Licht besehen - was es vielleicht genau deshalb zur aussagekräftigsten Manifestation der unterirdischen Qualität der Debatte macht.

Was freilich alles nichts daran ändert, dass der Abzug der USA aus Afghanistan allein innenpolitische Gründe hat. Ob es Biden mit seiner Rückzugs-Entscheidung angesichts des Dauerfeuers von allen Seiten allerdings gelingen wird, jene Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, die unter Donald Trump noch angeblich ach so viel Wert darauf legten, bleibt mehr als fraglich. Ab und zu Applaus vom Gegner zu bekommen, ist eine Sache - die Außenpolitik der einzigen wirklich globalen Supermacht danach auszurichten, eine andere.