In der Ukraine führt ausgerechnet ein Fernsehkomiker vor den Präsidentschaftswahlen am Sonntag alle Umfragen an. Was das über das Fernsehen aussagt, das immer noch von den mächtigsten Oligarchen des Landes kontrolliert wird.
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Kiew. Es ist eine Frage, die in der Ukraine derzeit alle Schlagzeilen bestimmt: Wird wirklich ein Komiker der nächste Präsident des Landes? Nämlich Wolodymyr Selenskyj, bekannt aus seiner Rolle als unbedarfter, aber ehrlicher Präsident in der TV-Serie "Sluga Naroda", "Diener des Volkes"? Derzeit führt er alle Umfragen zu den Wahlen am Sonntag an. Und das nicht in der Fiktion, sondern in der Realität.
Es ist eine skurrile Geschichte aus einem skurrilen Wahlkampf. Statt Hände zu schütteln, stand Selenskyj zuletzt für die neue Staffel seiner Fernsehserie vor der Kamera, die prompt wenige Tage vor den Wahlen gestartet ist. Ob Selenskyj nun gewinnt oder nicht - der schwindelerregende Aufstieg des Fernsehkomikers wirft ein besonders grelles Schlaglicht auf einen Player, der die ukrainische Politik schon seit jeher maßgeblich prägte: das Fernsehen.
75,7 Prozent der Ukrainer informieren sich primär über das Fernsehen, so eine aktuelle Studie des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie. Die beliebtesten Fernsehsender werden allesamt von Oligarchen kontrolliert. Der TV-Sender "Ukraina" ist mit 15,26 Prozent Marktanteil der populärste ukrainische Sender und gehört dem reichsten Ukrainer Rinat Achmetow. Der Unterhaltungssender "1+1" (Marktanteil: 10,05 Prozent), auf dem die Polit-Comedy "Sluga Naroda" läuft, wurde wiederum 2010 vom Oligarchen Ihor Kolomojskyj gekauft. Und so geht es weiter im Ranking der beliebtesten Sender: "Inter" gehört dem Gasbaron Dmytro Firtasch, "ICTV" dem Kunstmäzen Wiktor Pintschuk. Die zehn beliebtesten Fernsehsender werden insgesamt fünf mächtigen Oligarchen zugeschrieben. Auch der amtierende Präsident Petro Poroschenko hat seinen eigenen Sender, "Fünfter Kanal", wenngleich nur mit einem vergleichsweise geringen Marktanteil von 0,24 Prozent.
Global betrachtet sind große Medienkonzerne, die sich den Markt eines Landes aufteilen, gar nichts Ungewöhnliches. Nur: Während große Medienkonzerne in Europa oder den USA auf Gewinn aus sind, ist der Medienmarkt für die ukrainischen Oligarchen wirtschaftlich nur ein Nebenschauplatz. "Sie benutzen die wichtigsten Fernsehsender als Vehikel, um ihre politische Agenda durchzusetzen" und hätten dadurch "einen maßgeblich Einfluss auf das Ansehen von Politikern und Parteien", schreibt das Warschauer Centre for Eastern Studies in einer Analyse.
"Insbesondere bei den TV-Sendern sind ganz klar Sympathien oder Antipathien für bestimmte Präsidentschaftskandidaten zu erkennen", sagt auch Diana Duzyk, Geschäftsführerin des Ukrainischen Instituts für Medien und Kommunikation. "Meistens ist das nicht auf die Recherche der Journalisten, sondern auf die Position der Eigentümer zurückzuführen, die ihre politischen Interessen vertreten."
Während des Wahlkampfes werden die Schlammschlachten zwischen den Oligarchen auf den Fernsehbildschirmen besonders offen ausgetragen. Umso mehr, als sich zuletzt ein Showdown zwischen zwei Lagern abzeichnete: das des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko und seinem Widersacher Ihor Kolomojskyj. Der Schokoladeunternehmer Poroschenko tritt für eine zweite Amtszeit an, Kolomojskyj wiederum, der sich mit dem Präsidenten seit der Verstaatlichung seiner Privatbank überworfen hat, wird ein Naheverhältnis zu Selenskyj und Julia Timoschenko nachgesagt. Selenskyj führt die Umfragen mit rund zehn Prozentpunkten Vorsprung an, Timoschenko und Poroschenko liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen für den Einzug in die Stichwahl.
Der Fernsehschirm als Spiegelbild der Verhältnisse
Dass die Oligarchen direkten Einfluss auf die Inhalte nehmen, wird in den Redaktionen freilich dementiert. Serhij Popow, Chefredakteur der Info-Sparte bei "1+1", führt durch die modernen, hellen Redaktionsräume des Senders inmitten des Kiewer Hipster-Viertels Podil. "Wir haben eine klare Haltung: Wenn etwas wahr ist, dann berichten wir davon, ob das unserem Eigentümer nun gefällt oder nicht", sagt er. Mit Kolomojskyj treffe er sich demnach nur ein Mal im Jahr zu einem "lockeren Meinungsaustausch." Doch dass Kolomojskyjs Erzfeind Poroschenko auch bei ihm selbst keine großen Sympathien genießt, lässt er schnell durchblicken. "Poroschenko hat uns schon seit Jahren kein Interview mehr gegeben", sagt Popow. "Das sollen die neuen Standards nach dem Maidan sein?"
Mit den Standards hält es 1+1 aber selbst nicht so genau. Dieser Tage wurde in der Sendereihe "Ukrainische Sensationen" die skurrile Behauptung aufgestellt, Poroschenko hätte seinen eigenen Bruder umgebracht. Poroschenko hat indes angekündigt, gerichtlich gegen die Falschmeldungen bei 1+1 vorzugehen.
Vergleichsweise harmlos war da noch der Auftritt des Komikers Selenskyj, der prompt zu Silvester auf dem Kolomojskyj-Sender seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen ankündigte - und damit ganz nebenbei dem Präsidenten Poroschenko bei seiner traditionellen Fernseh-Neujahrsansprache die Show stahl. Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl startete zudem die dritte Staffel von "Sluga Naroda", jener Serie, in der Selenskyj den Fernseh-Präsidenten mimt. Darüber ist zuletzt eine Diskussion entbrannt, ob das noch Unterhaltungsspaß ist - oder schon Wahlkampfagitation.
Überhaupt ist das Fernsehen ein Spiegelbild der Machtverhältnisse in der Ukraine. Zwar wurde Präsident Poroschenko bei seinem Amtsantritt von der damaligen OSZE-Medienbeauftragten Dunja Mijatovic dazu aufgerufen, seinen Fernsehsender zu verkaufen - bisher vergebens. Seit 2015 ist zudem ein Gesetz über Medientransparenz in Kraft, doch das hat seither nicht zu mehr Klarheit bei den Eigentümern, sondern nur zu neuen Strohmännern geführt.
Nach dem Maidan wurde zudem eine Reform des staatlichen Fernsehens angestoßen, um die Dominanz der privaten Sender zu brechen. Bisher erfolglos. Lippenbekenntnisse, verwässerte Reformen, enttäuschte Hoffnungen: Das Fernsehen steht für das Dilemma der Reformpolitik, seitdem durch die Revolution am Maidan der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch Anfang 2014 gestürzt wurde.
Den Traum vom schönen, neuen Fernsehen hatte auch Surab Alasanija. Der 54-jährige sitzt in seinem Büro im "Telezentrum" in Kiew, einem sowjetischen Baukoloss mit 24 Stockwerken, wegen seines spitz zulaufenden Daches im Volksmund auch "Bleistift" genannt. 2014 wurde der aus Georgien stammende Journalist zum Generaldirektor des Nationalen Rundfunks ernannt, um das dröge Staatsfernsehen in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk - Vorbild: BBC - umzubauen.
Er kritzelt ein Koordinatensystem auf seinen Block: Längen- und Breitengrade, entlang derer die Privatsender der Ukraine liegen. Plus und Minus, ob sie eher positiv oder negativ über den Präsidenten berichten.
Zwar sorgen die privaten Sender der Oligarchen für einen Pluralismus, den es in anderen Ländern nicht gibt. Doch wie in jedem Koordinatensystem sollte es eine klare Basis, einen Nullpunkt geben: den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sagt er: "Fair und gerecht zu allen."
Zwar hat Alasanija die Redezeit der Abgeordneten begrenzt, neue Formate eingeführt und die eng mit den Lokalpolitikern vernetzten TV-Direktoren in den Regionen durch junge Fernsehjournalisten ersetzt. Wo früher auf dem Kanal "Perschyj" Haus-und-Hof-Berichterstattung für die Machthaber betrieben wurde, liefen plötzlich kritische Sendungen über Korruption. Doch während die Regierung das Projekt zu Beginn noch unterstützte - immerhin war der öffentlich-rechtlichen Rundfunks Teil des EU-Assoziierungsabkommens -, hat sich der Wind inzwischen gedreht. Das Budget wurde zusammengestrichen, erst unlängst schlitterte Alasanija an seiner Abberufung vorbei. Nach einem Aufschrei aus der Zivilgesellschaft und dem Ausland wurde diese vorerst verschoben - doch nur bis nach den Präsidentschaftswahlen. Alasanija will die Abberufung anfechten.
Also war alles umsonst, kommt das "alte System" zurück? Alasanija verneint - trotz allem. "Es sind zumindest diese zwei dünnen Säulen, auf denen der Rundfunk heute steht: die Zivilgesellschaft und die internationalen Partner", sagt er. Das habe es früher, vor dem Maidan, nicht gegeben. Als die Propaganda unter Janukowitsch im Staatsfunk verbreitet wurde und Medien viel stärker unter Druck gesetzt wurden als heute. "Die Menschen vergessen schnell, wie schlimm es damals war."