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High Court weist Parlament das Recht zur Aufkündigung der EU-Mitgliedschaft zu. Der Austritt ist blockiert.
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London. Der britischen Premierministerin Theresa May ist die Kontrolle über den EU-Austritt ihres Landes entglitten, nachdem der Londoner High Court die alleinige Entscheidung über die Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft am Donnerstag dem Parlament zusprach. Gegen das Urteil, das im Lager der Brexit-Hardliner Empörung auslöste, will die Regierung vor dem höchsten Gericht des Landes, dem Supreme Court, Einspruch einlegen. Fürs Erste ist es May aber untersagt, Artikel 50 des EU-Vertrags in Anspruch zu nehmen, um wie geplant vor Ende März nächsten Jahres den Brexit einzuleiten und Austrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Der britische EU-Austritt ist damit vorerst blockiert.
Das High-Court-Urteil stellt so nicht nur den ganzen weiteren Austrittsprozess in Frage. Es spricht auch Westminster, dem britischen Parlament, die oberste Autorität in Sachen Brexit zu. In seinem historischen Urteil entschied das Gericht, dass May sich in diesem Fall nicht auf das sogenannte "königliche Vorrecht" berufen könne, das britischen Premierministern "normalerweise" zur Verfügung stehe. Der EU-Austritt sei so gravierend und würde so viele Bürgerrechte einschränken oder auslöschen, dass nur das Parlament darüber befinden könne, urteilte der High Court. "Die fundamentalste Regel der britischen Verfassung besteht darin, dass das Parlament der Souverän ist", erklärte der Vorsitzende Richter Lord Thomas of Cwmgiedd, Lord Chief Justice. Bisher hatte die Regierung darauf beharrt, dass sie im Alleingang den Brexit bewerkstelligen könne. Dafür, argumentierte sie, habe ihr das EU-Referendum vom Juni "ein klares Mandat" verschafft.
"Verrat" am Referendum
Nun müssen die Premierministerin und ihre auf rasche Abkoppelung von der EU drängenden Minister darauf hoffen, dass der Supreme Court den High-Court-Entscheid im Dezember noch zu Fall bringt. Ansonsten könnte ein langwieriger Gesetzgebungsprozess den Brexit auf viele Monate hin verzögern - und gegebenenfalls noch dafür sorgen, dass es nie zum Austritt kommt.
Helle Empörung löste der High-Court-Entscheid unter den anti-europäischen Wortführern des Landes aus. Der frühere Tory-Parteichef Iain Duncan Smith erklärte, die Justiz habe "nicht das Recht", der Regierung zu sagen, was sie zu tun habe und was nicht. Der Ex-Ukip-Vorsitzende Nigel Farage meinte, nun müsse man befürchten, dass es zum "Verrat" am EU-Referendumsbeschluss kommen werde. Wenn London den Austritt bis zum Frühjahr 2017 nicht eingeleitet habe, werde er selbst sich wieder in die britische Politik einschalten, gelobte Farage.
Die zurzeit für Farages Nachfolge kandidierende Ukip-Politikerin Suzanne Evans verlangte, dass die drei High-Court-Richter ihrer Ämter enthoben werden sollten. Und das rechte Boulevardblatt "Daily Mail" charakterisierte "die Richter, die den Brexit blockierten", mit den Worten: "Einer gründete eine europäische Anwaltsgruppe, der zweite knöpfte dem Steuerzahler für Rechtsberatung Millionen ab, und der dritte ist ein offen homosexueller ehemaliger olympischer Fecht-Wettkämpfer."
Oppositionspolitiker und einzelne Konservative lobten den Gerichtsbeschluss dagegen nachdrücklich. Entscheidungen derartiger Dimension könne man nicht "einer kleinen Gruppe von Ministern" überlassen, meinte die Grünen-Vorsitzende Carline Lucas. Für die Liberaldemokraten erklärte Parteichef Tim Farron, als Erstes müsse die Regierung May das Parlament über ihre Verhandlungsziele aufklären. Nach Abschluss der Verhandlungen müsse die britische Bevölkerung außerdem das Recht haben, in einem erneuten Votum über das Verhandlungsergebnis zu befinden - einschließlich der Möglichkeit zum Verbleib in der Union.
Sprecher der Labour Party beteuerten, sie würden "den Volkswillen natürlich respektieren" und im Unterhaus für Austritt stimmen - solange Großbritannien nur im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion verbleibt. Im Oberhaus könnte es aber auch direkten Widerstand gegen den Austritt geben. Beide Kammern wären zumindest in der Lage, den Prozess zu beeinflussen, statt ihm nur ohnmächtig zuzusehen. Auf jeden Fall, meinte der Gouverneur der britischen Zentralbank, Mark Carney, schaffe das Urteil "zusätzliche Ungewissheit" auf der Insel. In der britischen Wirtschaft wuchs die Hoffnung, dass sich jetzt zumindest ein "harter Brexit" vermeiden lässt. Das seit Monaten abrutschende Pfund legte nach dem Verdikt unmittelbar zu.
Länder wollen neues Votum
Regierungschefin May sieht bislang freilich keinen Grund, von ihrem Zeitplan abzurücken. Sie will die britische EU-Mitgliedschaft per Artikel 50 noch immer vor Ende März aufkündigen. Der Supreme Court wird am 7. und 8. Dezember zur entscheidenden Anhörung zusammenkommen. Alle elf Richter des höchsten Gerichts werden an der Beschlussfassung teilnehmen - eine Premiere. Ein Urteil wird noch vor Jahresende erwartet.
Unterdessen hat der walisische Regierungschef Carwyn Jones gefordert, dass nun auch die einzelnen Landes-Parlamente in Wales, Schottland und Nordirland über Austritt und Austrittsbedingungen abstimmen sollten. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon erwägt eine Beteiligung Schottlands am Berufungsverfahren, um May endgültig zu stoppen. Die Schotten stimmten mit 62 Prozent für Verbleib in der EU im Juni, und Sturgeon will "alles unternehmen", um "die Interessen der schottischen Bevölkerung zu sichern".