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Sensationsfund via Internet

Von Heiner Boberski

Wissen

Salzburger Philologe fand spätantiken Text von Bischof Fortunatian von Aquileia.


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Wien. Das Internet macht es möglich: Ein versierter Forscher kann am Bildschirm eine sensationelle wissenschaftliche Entdeckung machen, ohne sich in ein Labor oder eine Bibliothek zu begeben. Der Salzburger Philologe Lukas Dorfbauer fand so "vom Schreibtisch aus" ein "missing link" der Geisteswissenschaften - den mutmaßlich ältesten im lateinischen Westen verfassten Kommentar zu den vier Evangelien des Neuen Testaments. Die Evangelien nach Matthäus, Lukas, Markus und Johannes werden als kanonisch bezeichnet, da sie von der Kirche anerkannt sind - im Gegensatz zu gut einem Dutzend apokrypher Evangelien, die man nicht in die Bibel aufnahm. Der um das Jahr 350 verfasste Kommentar stammt von Bischof Fortunatian von Aquileia, sein kompletter Text galt als verschollen.

Bisher waren von diesem Werk nur drei Textstellen bekannt. Dorfbauer hatte sie zum Glück im Kopf, als er eine seit rund zehn Jahren digitalisierte und im Internet frei zugängliche mittelalterliche Handschrift aus der Dombibliothek Köln in Augenschein nahm. Der Philologe sagt selbst, er sei sicher nicht die erste Person gewesen, die diese Handschrift aus dem frühen 9. Jahrhundert ansah, aber er war der erste Experte, der aufgrund seiner Vorkenntnisse die richtigen Schlüsse zog. Er erkannte, dass es sich bei einem darin enthaltenen "anonymen Kommentar aus dem Mittelalter" nur um eine Abschrift des Werkes von Bischof Fortunatian handeln konnte: "Wenn alle drei bekannten Ausschnitte in einem einzigen zusammenhängenden Text vereint sind, dessen Inhalt und Sprache überdies zu der entsprechenden Zeit passen, ist jeder Zweifel auszuschließen."

Lukas Dorfbauer gehört der Arbeitsgruppe CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum - Corpus der lateinischen Kirchenväter) an der Universität Salzburg an. Erforscht werden von diesem Team Texte in lateinischer Sprache, die zwischen den Jahren 200 und 700 entstanden sind. CSEL-Leiterin Dorothea Weber, Professorin an der Uni Salzburg, ist von Dorfbauers Entdeckung begeistert und spricht von einer "Sternstunde".

Aquileia an der oberen Adria war in der Spätantike und im frühen Mittelalter eine der politisch und geistesgeschichtlich bedeutendsten italienischen Städte. 452 wurde es von den Hunnen unter ihrem König Attila zerstört. Der dortige Patriarch - bald nach Bischof Fortunatian wurde Aquileia Sitz eines Erzbischofs, der im 6. Jahrhundert den Titel Patriarch erhielt - kam in der Rangfolge der italienischen Kirchenfürsten gleich nach dem Papst.

Kritische Edition in Arbeit

Wie Dorfbauer erklärt, sind Texte aus der Spätantike so gut wie nie im Original überliefert. Doch Werke von Bedeutung wurden immer wieder in den Skriptorien der Klöster - die spätestens seit Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose" weithin bekannt sind - händisch kopiert und so in mittelalterlichen Abschriften der Nachwelt überliefert. Der Fund des Evangelienkommentars von For-tunatian ermöglicht nun das Studium der interessanten Fragen, wie im 4. Jahrhundert die Bibel ausgelegt wurde, wie weit die Bibelexegese der folgenden Jahrhunderte davon geprägt war und wie weit bisherige wissenschaftliche Theorien zutreffend waren.

Fest steht, dass der Kommentar in Westeuropa im 8. und 9. Jahrhundert verbreitet war. Um die kostbare Entdeckung nun einer breiteren wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, arbeitet Lukas Dorfbauer bereits an einer kritischen Edition. In den Jahrhunderten zwischen der Erstfassung und der vorliegenden Abschrift, die mutmaßlich im nördlichen Rheinland entstanden ist, haben sich einige Fehler oder nicht ganz authentisch erscheinende Textpassagen eingeschlichen, die es zu korrigieren oder als unsicher zu kennzeichnen gilt. Nun sucht Dorfbauer nach weiteren Abschriften, um den Originalwortlaut aus dem 4. Jahrhundert möglichst wortgetreu rekonstruieren zu können.

Einen Text, der aus Norditalien oder der heutigen Schweiz stammt und Auszüge aus Fortunatians Kommentar enthält, hat er bereits gefunden. Und wenn immer mehr alte anonyme Schriften digitalisiert online gestellt werden, wird er ja vielleicht noch einmal im Internet fündig.