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Verlorene Jahre durch politisches Tauziehen. | Reformtempo verringert.
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Mit dem Sturm auf das Bundesparlament und die Zentrale des staatlichen serbischen Fernsehsenders RTS in Belgrad endete am 5. Oktober 2000 die Ära von Slobodan Milosevic. Der Autokrat hatte neuerlich versucht, nach der Niederlage bei der Wahl zum Präsidenten Rest-Jugoslawiens durch Betrug an der Macht zu bleiben.
Hinweggefegt wurde er vom - organisierten - Volkszorn unter Führung des Oppositionsbündnisses DOS (Demokratische Opposition Serbiens), an deren Spitze Zoran Djindjic und Vojislav Kostunica standen. Einen Tag nach dem Volksaufstand, am 6. Oktober, gestand Milosevic seine Niederlage ein, und am Abend des 7. Oktober wurde Kostunica im Bundesparlament als neuer Präsident Jugoslawiens vereidigt.
Der Machtwechsel in Rest-Jugoslawien war somit praktisch unblutig gelungen, doch in Serbien, wo nicht gewählt worden war, waren die Milosevic-Sozialisten formell noch immer an der Macht. Bis zur Parlamentswahl Ende Dezember und zum Amtsantritt von Zoran Djindjic als serbischer Ministerpräsident vergingen noch drei Monate. Und das war der erste große Zeitverlust, dem noch viele folgen sollten.
Hinzu kam, dass die Sieger alles andere als einig waren, in welche Richtung und wie schnell die Reformen nun vor sich gehen sollten. Grund dafür war, dass sich gegen Milosevic höchst unterschiedliche Kräfte zusammengefunden hatten - Regimegegner der ersten Stunde, aber auch Personen, die Milosevic einfach ablehnten, weil er gescheitert war.
Der Traum von der EU
Diese Heterogenität führte bereits ein Jahr später de facto zum Zerfall der Koalition DOS, die folgende Herausforderungen zu lösen hatte: die Frage, was aus Jugoslawien werden sollte, weil die Führung in Montenegro nach dem Ende von Milosevic auf Unabhängigkeitskurs blieb; die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag inklusive der Frage, ob Milosevic ausgeliefert werden sollte; und das damals noch weniger aktuelle Problem des endgültigen Status des Kosovo.
Ein weiteres Problem war die weitgehend ruinierte und kriminalisierte Wirtschaft Serbiens. Öl- und Zigarettenschmuggel blühten, der Stromversorgung drohte der Zusammenbruch, die Devisenreserven der Nationalbank betrugen nur mehr etwa 150 Millionen Euro, und die gesamten serbischen Spareinlagen in den Banken des Landes lagen bei nur 50 Millionen Euro.
Angesichts dieser Probleme wollte Premier Djindjic die raschestmögliche Modernisierung und Europäisierung Serbiens. Dafür war er bereit zu unpopulären Maßnahmen und zu Kraftakten wie der Auslieferung von Milosevic an das Haager Tribunal im Juni 2001. Dagegen war der Nationalist Kostunica für ein viel gemächlicheres Tempo und stand auch dem Westen äußerst reserviert gegenüber. Die Entmachtung Kostunicas gelang Zoran Djindjic erst mit der Umwandlung Rest-Jugoslawiens in den Staatenbund Serbien und Montenegro im Februar 2003; doch bereits am 12. März wurde Djindjic im Hof der Regierung in Belgrad von einem Scharfschützen ermordet. Damit endete der Traum von der Aufholjagd, die Serbien so rasch wie möglich in die EU hätte führen sollen.
Ende 2003 wurde Kostunica schließlich Premier, und seit damals hat das Reformtempo spürbar an Fahrt verloren, obwohl seit 2008 wiederum Djindjics Partei federführend in Serbien ist. Die fährt unter Präsident Boris Tadic jedoch ebenfalls einen viel nationalistischeren Kurs.
Doch was ist von den großen Problemen gelöst worden, die vor zehn Jahren die Erblast von Slobodan Milosevic bildeten? Beseitigt wurde nur Rest-Jugoslawien und zwar durch die Unabhängigkeit von Montenegro 2006. Noch immer nicht abgeschlossen ist die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Goran Hadzic und vor allem Ex-General Ratko Mladic, der für das Massaker an 7000 Bosniaken in Srebrenica verantwortlich gemacht wird, sind noch immer in Freiheit.
Problem Privatisierung
Ebenso wenig berauschend wie die politische Bilanz fällt zehn Jahre nach Milosevic auch die Bilanz der Wirtschaftsreformen aus. Zwar sind die Unterschiede unübersehbar: Die Devisenreserven betragen nunmehr an die 10 Milliarden Euro und die Einlagen der Serben bei den Banken liegen bei 6,5 Milliarden. Doch eine Schocktherapie gab es nur im Bankensektor, wo heute 75 Prozent in den Händen von Banken aus der EU sind. Weit weniger internationalisiert ist die übrige Wirtschaft; Tycoons und andere Profiteure des Krieges dominieren den Einzelhandel und viele andere Bereiche.
Auch die Privatisierung ist längst noch nicht abgeschlossen, denn E-Wirtschaft, Post und die Fluglinie JAT sind noch immer im Staatsbesitz, werden also von den Regierungsparteien dominiert. Das beste Beispiel für das geringe Reformtempo bildet die Infrastruktur. Die Autobahn von Belgrad bis zur ungarischen Grenze etwa ist noch immer nicht fertig, obwohl genügend Kapital vorhanden ist.
Doch der Abschied von der Vergangenheit fällt anscheinend schwer: So sind nach einer Umfrage mehr als 80 Prozent der Serben der Ansicht, dass sie unter Tito am besten gelebt haben; sechs Prozent sehen ihre beste Zeit in der Ära Milosevic und zehn Prozent denken, dass es ihnen heute am besten geht. Vielen Serben ist auch nicht bewusst, wie weit ihr Land nicht nur hinter den entwickelten Staaten der EU, sondern auch hinter anderen Reformstaaten zurück liegt.
Doch ein Vergleich ist nunmehr möglich, wenn das Geld vorhanden ist: Seit Dezember des Vorjahres können die Serben ohne Visum in den Schengen-Raum reisen. Allerdings sollte auch die politische Elite erkennen, dass Serbien nur ein kleines Land mit sehr begrenzten Möglichkeiten ist. Dieser Realismus müsste zu einer Außenpolitik des gemeinsamen Auftretens Serbiens und seiner Nachbarn gegenüber der EU führen. Nur dann - und nach der Beseitigung der Probleme Ratko Mladic und Kosovo - kann Serbien hoffen, den 20. Jahrestag des Sturzes von Milosevic bereits als Mitglied der EU feiern zu können.