Eine Razzia gegen Prostitution entzweit Chinas Öffentlichkeit und lässt Rufe nach Legalisierung laut werden.
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Peking. Normalerweise ist es in Dongguan ein wenig schwierig, die Massagesalons zu übersehen, in denen keine Füße massiert werden, oder die Friseursalons, in denen kein Kamm benutzt wird. Seit dem vergangenen Wochenende ist in der südchinesischen Rotlicht-Hochburg östlich des Perlenflusses jedoch alles anders.
Hinter den Schaufenstern der einschlägigen Etablissements tragen die Mädchen statt Miniröcken und engen Korsagen demonstrativ weite Trainingsanzüge, und sie blicken den Männern nicht mehr offensiv in die Augen, sondern weichen ihren Blicken ängstlich aus. Sex? Nein, nein, den gäbe es hier nicht. Obwohl, es gäbe da dieses Lion-Hotel im Bezirk Changping, die kennen da vielleicht jemanden, der jemanden kennt. Im Lion-Hotel kennt allerdings niemand niemanden. Zufälligerweise habe auch die hauseigene Sauna gerade wegen Renovierung geschlossen, wie die Managerin bedauert. Auf Nachfrage, ob dies vielleicht mit der jüngsten Razzia zusammenhänge, sagt sie nur: "Welche Razzia?"
Das gespielte Erstaunen wäre gar nicht notwendig gewesen, denn ganz China spricht mittlerweile über jene Polizeiaktion, bei der am Wochenende 6525 Sicherheitsbeamte ausschwärmten, um dem Pfuhl die Sünde auszutreiben. Das ist viel Arbeit in einer Acht-Millionen-Stadt, in der geschätzte 30 Prozent des Dienstleistungsumsatzes durch Sex erarbeitet werden und vermutlich 800.000 Personen dem Gewerbe nachgehen - einer von zehn Einwanderern ist hier im Rotlichtmilieu tätig. Also stürmten die Polizisten in einer Blitzaktion ein Dutzend Hotels, Karaoke- und Saunaclubs und nahmen bis zum Morgengrauen 67 Prostituierte und Clubbetreiber fest.
Plötzlicher Arbeitseifer
Da das Ergebnis offenbar in keiner Relation zum betriebenen Aufwand stand, wurden den Kameras triumphierend halbnackte Mädchen in Polizeibussen präsentiert, deren Hände mit Kabelbindern auf den Rücken gefesselt waren. Danach wurde die Suche auf 31 Kleinstädte im Umkreis ausgeweitet, und Hu Chunhua, der Parteichef der Provinz Guangdong, kündigte eine dreimonatige Schwerpunktaktion an, bei der die Prostitution "mit eiserner Faust bekämpft" werde.
Dem plötzlichen Arbeitseifer der Beamten ging eine Reportage des staatlichen Fernsehsenders CCTV voraus, die wenige Stunden vor der Aktion das Rotlichtmilieu von Dongguan beleuchtet hatte. Der Bericht prangerte die laxe Führung der Stadt an, die es zugelassen habe, dass der Ort "verfallen" sei. Zum Beweis filmte ein Undercover-Journalist mit versteckter Kamera einen "Schönheitswettbewerb", bei dem Stripperinnen und Prostituierte auf einem Laufsteg ihre Vorzüge und Preise vorstellten. "Du musst dich nur hinlegen, und das Mädchen erledigt den Rest", flötet eine Managerin arglos in die Kamera, und auch die anderen Bosse scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Auf die Frage des Journalisten, ob denn die Polizei nicht einmal einschreiten würde, antwortet ein Zuhälter: "Die werden nie kommen. Sonst hätten wir unser Geschäft schon lange schließen müssen. Besorgt wären wir nur, wenn du Journalist wärst." Besagter Journalist verständigte in der Folge zwei Polizeiposten, die die Anrufe routiniert zur Kenntnis nahmen und anschließend ebenso routiniert untätig blieben.
Kontroverse Diskussion
Doch mittlerweile wurden acht zuständige Polizeibeamte und ihre Sicherheitsdirektoren gefeuert, weitere sollen folgen - offenbar auf direkten Befehl aus Peking. Nach Kampagnen gegen Korruption, Bestechlichkeit und Amtsmissbrauch wird nun also der Kriminalität der Kampf angesagt, was in der Öffentlichkeit allerdings auf geteiltes Echo stößt. Viele Chinesen sympathisieren offen mit den Prostituierten und sehen sie als Bauernopfer, während der Staatssender CCTV für seine Rolle als Aufdecker scharf kritisiert wird.
Den Journalisten wird unter anderem Doppelmoral vorgeworfen, viele finden es entwürdigend, Prostituierte ohne Gesichter-Verpixelung derart an den Pranger zu stellen. "Es ist das erste Mal, dass in der Öffentlichkeit eine so offene Debatte über Prostitution ohne eindeutige Schuldzuweisung und Moralvorstellung geführt wird", stellt etwa der Menschenrechtsexperte Nicholas Bequelin aus Hongkong fest. Erstaunlich kontrovers wird auch im sonst streng kontrollierten Internet über eine Legalisierung des offiziell verbotenen Gewerbes diskutiert, die zumindest einer Stadt wie Dongguan zugutekäme: Laut ersten Berechnungen von Ökonomen belaufen sich die direkten wirtschaftlichen Verluste auf mindestens 6 Millionen Euro - und das nach nur einer Razzia.
Prostitution in China
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen arbeiten in China zwischen vier und sechs Millionen Frauen zu einem monatlichen Durchschnittslohn von 140 Euro in der Sexindustrie und somit in der Illegalität. Offiziell verboten ist die Prostitution seit 1991, obwohl sie von den Kommunisten bereits mit ihrer Machtübernahme 1949 bekämpft wurde. Zusammen mit Glücksspiel und Opiumgenuss wurde Prostitution zum Übel des alten Feudalsystems sowie zum Symbol für Dekadenz und nationale Erniedrigung erklärt.
Hunderttausende Prostituierte sollten daher nach der kommunistischen Machtergreifung umerzogen werden; die Bordelle - allein in Shanghai waren mehr als 800 "Blumenpavillons" amtlich registriert - wurden geschlossen. Mit den Wirtschaftsreformen Deng Xiaopings kehrte auch die käufliche Liebe zunächst diskret in die Städte zurück, heute ist sie im ganzen Land verbreitet. Trotz des Verbots ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Prostitution in China hoch, was nicht zuletzt mit der durchaus sinnesfreudigen Historie zu tun haben dürfte: In der Tang-Dynastie waren Prostituierte sogar registrierte Steuerzahler.