Sex ist mehr als Fortpflanzung: Wissenschaftern zufolge verhindert er auch schädliche genetische Mutationen.
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Wien. Für die einen ist er Höchstgenuss, für die anderen eine Art Pflicht, der sie im Zweifel Schokolade vorziehen würden. Wieder andere können kaum ohne, und wieder anderen ist er egal: Wie auch immer der Mensch zum Sex stehen mag, in der Evolution erhält er sogar mehr als die Art. Denn jene Arten, die sich sexuell fortpflanzen, sind gesünder als solche, die ihre Nachkommen ungeschlechtlich erzeugen. Das wollen kanadische Forscher anhand der Nachtkerze herausgefunden haben.
Die allerersten Lebewesen pflanzten sich asexuell fort. Erst vor 700 bis 800 Millionen Jahren trat die geschlechtliche Reproduktion auf. Vermutet wird, dass die Vielfalt der Lebewesen auf Erden erst durch die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung möglich wurde. Nach wie vor aber erzeugen Bakterien, einzellige Algen oder bestimmte Pflanzenarten ungeschlechtlich Nachkommen. Die Nachtkerze (Oenothera), eine spezielle Primel-Art, diente Jesse Hollister, Post-Doc im Department für Evolutionsbiologie und Umweltforschung der Universität Toronto, und seinen Kollegen als Modellorganismus. Die Forscher wollten mit ihrer Studie Theorien untermauern, wonach sexuell fortpflanzende Arten gesünder sind, weil sie im Laufe der Zeit weniger genetische Mutationen ansammeln. "Das würde verständlich machen, warum so viele Lebewesen sich dem aufwendigen Prozess der sexuellen Fortpflanzung unterziehen", erklärt Hollister im Fachblatt "Molecular Biology and Evolution".
Die sexuelle Fortpflanzung galt unter Biologen lange als rätselhaftes Paradoxon. Rein mathematisch schien die ungeschlechtliche Fortpflanzung nämlich sinnvoller, da auf diese Weise jeder Organismus Nachkommen hervorbringen kann und alle, nicht nur die Hälfte der Gene weitergegeben werden.
Hollister zufolge lässt diese Theorie schädliche Mutationen außer Acht. Genetische Mutationen passieren bei allen Arten von einer Generation zur nächsten. Bei der sexuellen Vereinigung werden jedoch weibliche und männliche Gene zunächst getrennt, dann wieder zusammengeworfen und schließlich neu kombiniert, damit nicht jedes Kind zusätzlich zu den ohnehin stattfindenden Mutationen auch noch all jene der Eltern dazubekommt.
Bei der asexuellen Reproduktion wird hingegen das gesamte Genom kopiert - die Nachkommen sind Klone ihrer Eltern. "Mit der Zeit sammeln sich die schädlichen Mutationen an. Die Fitness der Art sinkt, weil sie die Entwicklungsrichtung nicht verlassen kann. Gegenüber sexuell fortpflanzenden verlieren ungeschlechtliche Arten an Wettbewerbsfähigkeit und sterben schließlich aus", so Hollister.
Rund 30 Prozent der Nachtkerzen-Arten sind asexuell. Unter Zuhilfenahme von Datenbanken zu Pflanzen-Genomen untersuchten die Forscher geschlechtlich und ungeschlechtlich fortpflanzende Nachtkerzen. Manche der asexuellen Arten waren jünger als andere, wodurch die Auswirkungen dieser Fortpflanzungsform für die Wissenschafter sichtbar wurden.
"Die Ergebnisse bestätigen unsere Theorie exakt", betont Hollister. Laut Marc Johnson, Professor am Department für Evolutionsbiologie in Toronto, wirft die Studie neues Licht auf das Paradoxon Sex. "Es ist der erste solide Nachweis für die Theorie, dass die ungeschlechtliche Reproduktion hohe Kosten hat: Ein Teil des Rätsels, warum so viele Arten Sex haben, ist somit gelöst. Er ist gut für die Gesundheit - zumindest, wenn man eine Pflanze ist."