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"Wiener Zeitung": Sie leben unter ständiger Bedrohung. Woher kommen Ihr Mut und Ihre Lebenskraft? Seyran Ates: Das hängt mit frühkindlichen Erfahrungen zusammen. Der Wunsch, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen möchte, kam bei mir sehr früh. Und daher habe ich nach wie vor dieses Selbstverständnis: Ich will, dass auch andere das erreichen, was ich geschafft habe. Eine Art Helfersyndrom. Dass ich in der Familie als Mädchen und in der Schule als Ausländerin anders behandelt wurde, all das hat mich sehr geprägt. Und prägt mich heute noch. Diese Wut, dieser Ärger steckt immer noch in mir.
Haben Sie denn auch manchmal Angst?
Angst kann eine Kraftquelle sein. Man muss auch den Mut haben, Angst zu haben. Angst ist ein Teil des Lebens. Es ist auch sehr gesund, bei der Arbeit für meine Klientinnen Angst zu haben, sonst wäre ich ja nicht sensibilisiert für die Gefahren. Nach dem Attentat auf eine meiner Klientinnen und mich haben wir viel darüber geredet, ob wir zu naiv waren. Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass wir damals zu wenig Angst gehabt und zu wenig auf Sicherheitsvorkehrungen geachtet haben.
Sind unsere Pädagogen hinreichend sensibilisiert für die Angst von Migranten-Mädchen und helfen sie ihnen genügend?
Zu 90 Prozent nein. Es gibt schon welche, die genauer hinschauen und versuchen, Sachkenntnis walten zu lassen. Die meisten aber nicht, oder sie haben ebenfalls Angst und schauen weg.
Wenn österreichische Kinder geschlagen werden, schauen Lehrer nicht weg. Bei Migranten sind sie oft nicht so sensibel.
Was in Österreich in puncto Gewalt in der Erziehung geschafft wurde, das wird in Ländern wie der Türkei erst jetzt diskutiert. Daher müssten auch Lehrer wissen, dass sie mit zweierlei Maß messen. Sie müssten sich die Frage stellen: "Warum behandle ich Kinder aus anderen Kulturen schlechter?" Da schlägt der positive Rassismus durch: "Ich mische mich nicht in eine andere Kultur ein und glaube, dass ich damit etwas Positives tue." Man müsste ihnen klarmachen, dass sie das Gegenteil tun, diskriminieren und verantwortungslos handeln, wenn sie sich nicht einmischen.
Wie kann man überhaupt Integration einfordern, wenn man von den Migranten weder Deutschkenntnisse verlangt noch, dass sie ihre Kinder nicht schlagen?
Deutsch als Integrationsmittel zu bezweifeln - damit liegt Österreich noch weiter zurück als der Rest von Europa. In den skandinavischen Ländern konzentrieren sich die meisten Programme darauf, dass die Kinder wie auch die Mütter von Migranten die Landessprache lernen. Die sogenannten Gutmenschen und Liberalen sind genau solche Rassisten wie die Rechten, weil sie subtil im positiven Sinn rassistisch handeln, wenn sie sagen, dass für die Integration Deutsch nicht notwendig ist. Das ist das Absurdeste überhaupt.
Wenn ein Kind in einer Gesellschaft Erfolg haben will, muss es die Landessprache sprechen. Natürlich ist allein mit der Sprache Integration noch nicht erreicht. Aber die Sprache ist einer der wichtigsten Wege dorthin. Und oft sind gerade jene Leute, die das bestreiten, besonders darauf bedacht, dass ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen. Sie wollen sie fördern und global erziehen. Und gerade die sagen dann: "Warum zwingt ihr die armen Migranten-Kinder, Deutsch zu lernen?" Ich unterstelle diesen Leuten, dass sie eigentlich gar nicht wollen, dass diese Kinder mit ihren mithalten. Das ist Diskriminierung: Während sie ihren eigenen Kindern alle Chancen geben wollen, wollen sie den Migranten-Kindern keine geben. Darin sind sie nicht besser als die Rechten.
Durch die frühe staatliche Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft fühlt sich Österreich in einer Vorreiterrolle. Sie betonen aber, dass das eine schwierige Sache ist, weil es ja nicht nur einen Islam gibt.
Da macht man sich in Österreich viel vor. Man hat zwar in Österreich den Islam integriert, aber nicht genau geschaut, wen man da integriert hat. Das ist so, als ob man einem Kind ein Buch in die Hand drückt und meint, man habe ja dafür gesorgt, dass es lesen lernt. Sie haben eine Gemeinschaft offiziell begrüßt und akzeptiert und sind nach Hause gegangen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Niemand kann bestreiten, dass diejenigen, die hierzulande in der Islamischen Glaubensgemeinschaft das Sagen haben, nur einen kleinen Ausschnitt der gesamten Muslime in Österreich repräsentieren. Das hätte man aber schon vor 20 Jahren sehen können. Aus Fehlern sollte man lernen.
Was sollte man konkret tun?
Man müsste die Muslime in ihrer Gesamtheit betrachten und schauen, in welcher Vielfalt der Islam existiert, welche Gruppierungen es gibt und welche Ausrichtungen. Denn mitunter haben Sie es mit religiösen Strömungen zu tun, die mit der österreichischen Gesellschaftsordnung nicht einverstanden sind, die eine ganz andere in ihren Gemeinden praktizieren und für Österreich haben wollen. Man darf sich nicht einbilden, dass es etwa in Frankreich, England und Holland Hassprediger gibt, aber in Österreich nicht. Wie kommen Sie auf die Idee, dass Ihre Muslime anders beschaffen sind? Woher nehmen Sie diese Naivität?
Die Repräsentanten der Muslime sagen immer, sie seien anders.
Einige Muslime in Deutschland, England und anderen Ländern sagen das auch. Welcher Hassprediger sagt denn: Ich predige Hass? Und sind in den Gefängnissen in aller Welt nur unschuldige Menschen inhaftiert?
Liegt die Ursache der vielen Probleme, die durch die Konfrontation des Islam mit der westlichen Welt entstehen, in der Religion des Islam oder nur in der Tradition seiner Auslegung?
Religion bedingt Kultur und Kultur bedingt Tradition. Und umgekehrt. Dies wird ja oft als Totschlagargument verwendet. Da heißt es dann: Nicht die Religion ist schuld, sondern die Tradition. Man will Religion und Kultur ausklammern. Aber eine Tradition entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern aus Religionsverständnis und Kultur. Das sind drei Komponenten, die sich gegenseitig bedingen.
In Deutschland gibt es mittlerweile schon etliche türkische Intellektuelle wie Sie, die säkulare Musliminnen sind. In Österreich beharren türkische Akademikerinnen noch auf dem Recht, ein Kopftuch zu tragen.
Das hängt damit zusammen, dass sie in der Türkei nicht mit Kopftuch studieren konnten, deswegen sind sie hierher gekommen. Auch deswegen, weil die Österreicher die muslimische Religionsgemeinschaft integriert und den Konservativen überlassen haben. Dass in Österreich die konservative muslimische Elite unterstützt wird, dafür ist der Staat verantwortlich. In den Beratungsstellen aber trifft man Intellektuelle, die nicht den konservativen Islam leben. Wenn man mit ihnen redet, erfährt man, dass sie aus der aktuellen Diskussion ausgeschlossen sind, weil in Österreich nur die Konservativen akzeptiert sind. Durch die Integration der Glaubensgemeinschaft wurden die Nicht-Konservativen diskriminiert. Sie werden nicht einmal als Gesprächspartner ernst genommen.
Das heißt, wir haben sehr viel hausgemachte Probleme?
Sehr viel. Auch in Deutschland hat es das gegeben, wir säkularen Muslime haben dort erst seit dem 11. September 2001 mehr Gehör gefunden, weil man sich jetzt bemüht, den Islam in Deutschland zu integrieren. Die Österreicher haben sich ja auf die Integrationsillusion zurückgezogen und tun es heute noch. Sie sagen: Islam-Konferenz in Deutschland? Das haben wir ja längst. Aber das stimmt nicht.
Eine Islamkonferenz wäre Ihrer Meinung nach auch für Österreich wichtig?
Unbedingt. Dann würde man jene Menschen schon wahrnehmen, die arbeiten wie wir. Sie sind da, zwar noch nicht in der Öffentlichkeit, aber in zwei, drei Jahren wird man sie kennen. Auch in den Beratungsstellen gibt es Frauen, die aktiv sind. Sie sagen, dass die säkularen Muslime und die "Ex-Muslime", die nicht mehr gläubigen, in Österreich wenig Gehör finden, weil man das Podium den Konservativen überlassen hat.
Wir haben das Problem also an der falschen Stelle angepackt?
Ja, an der ganz falschen. Sie klopfen sich selbstzufrieden auf die Schulter, denken, Sie haben etwas ganz Tolles getan, und reiten sich in die schlimmste Misere. So diskriminieren und unterdrücken Sie nämlich die Intelligenz, die im echten Sinne Integration fördert, die Zwangsheirat und ähnliches bekämpft - und zwar unter Wahrung der Tradition. Wir sagen ja nicht, dass wir uns assimilieren wollen. Dank unserer Unterstützung aus Deutschland trauen sich die Säkularen in Österreich allmählich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und haben das Problem, dass, wenn sie in die Medien gehen, versucht wird, sie ins rechte Eck zu drängen. Um dagegen anzukämpfen, muss man viel Kraft und Stärke haben, um zu sagen: "Nein, ich bediene nicht die Rechte, sondern ich kämpfe für die Gleichberechtigung."
Der erste grüne Bundesrat, der Türke ist, hat solche Probleme mit seiner eigenen Partei.
Gerade bei den Grünen haben die sogenannten Zuwanderer die größten Probleme, weil die Grünen es ja auf ihre Fahne geschrieben haben, Gutmenschen zu sein. Dort kann man nur gut sein, wenn man andere Kulturen nicht kritisiert, sondern sie immer nur als Opfer sieht und bemuttert. Bei den Grünen haben nur die Chancen, die mitschwimmen, die mit den Gutmenschen gut sind. Die gelten als Vorzeigemigranten. Man muss verhindern, dass die Rechten dieses Thema besetzen.
Wie soll eine offene Gesellschaft mit dem Thema Zwangsheirat umgehen?
Das Thema Zwangsverheiratung geht nicht nur die Menschen an, die sie praktizieren, und jene, die die Opfer sind. Es betrifft die ganze Gesellschaft. Denn das sind unglückliche Menschen, es wird häusliche Gewalt geben, Kinder, die nicht gewollt sind, die meistens aus Vergewaltigungen stammen und in unglücklichen Familien aufwachsen. Und die gehen dann in die Schule, werden erwachsen, haben selber Familien. Man kann sagen: "Das betrifft uns ja nicht. Was haben wir damit zu tun? Zwangsverheiratung gleicht den verhungernden Kindern in Afrika. Das hat keine Folgen für unseren Alltag." Das stimmt aber nicht. Denn Ihre Kinder sind mit diesen Kindern konfrontiert. Die Atmosphäre des Zusammenlebens ist eine Folge der Zwangsverheiratung.
Kann der Staat etwas dagegen tun?
Teilweise ist auch dieses Problem hausgemacht. Weil das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz die Einwanderung nach Österreich in erster Linie dadurch zulässt, dass man heiratet. So macht man Österreich zu einer Heiratsvermittlungsagentur. Es gibt Familien, die ihre Kinder extra mit Verwandten verheiraten, damit diese hierher kommen können. So sind Gesellschaft und Staat mitverantwortlich für Zwangsheiraten. Weil eben dieses Gesetz das Unrecht fördert.
Heirat sollte also kein Zuwanderungsgrund sein?
Schon, aber man muss auch andere Wege eröffnen. Man braucht ein echtes Einwanderungsgesetz. Dafür kämpfe ich in Deutschland.
Die österreichischen Politiker sagen aber, dass wir kein Einwanderungsland sind.
Das war früher in Deutschland auch so. Österreich liegt diesbezüglich weit zurück. Man kann nicht angesichts einer multikulturellen Gesellschaft mit einem großen jährlichen Zuzug immer noch sagen: "Wir sind kein Einwanderungsland." Da machen Sie sich etwas vor. Österreich ist definitiv ein Einwanderungsland. Das muss ausgesprochen werden, damit die Einwanderung gestaltet werden kann.
Und wenn die Heiratsmigration so stark ist, dann muss man überlegen, was man tun kann. So wie in Deutschland. Dort müssen die Importbräute Deutsch sprechen, bevor sie einreisen können. Man muss Bedingungen schaffen, die Zwangsverheiratungen erschweren.
Kann man den hier geborenen Mädchen helfen?
Das ist der nächste Schritt. Den hier Geborenen gegenüber hat man eine noch höhere Verantwortung. Die werden im Sommer im Ausland verheiratet, müssen dort bleiben oder kommen mit einem Ehepartner zurück. In Deutschland machen wir jetzt ganz konkret eine Kampagne zum Thema Ferienbräute. Da muss der Staat eingreifen und das Signal aussenden: "Falls ihr in eine solche Situation kommt, meldet euch bei der Botschaft, und wir helfen euch."
Und das kann der Staat?
Ja, wenn der Aufenthaltsstatus aufrecht ist. Dann kann die junge Frau sagen, dass man ihr den Pass weggenommen hat, dass sie aber ein Aufenthaltsrecht hat. Der Tatbestand der Verschleppung ins Ausland ist bei Ihnen wahrscheinlich - wie in Deutschland - noch nicht legal definiert. Es passieren daher meist informelle Dinge, aber wir arbeiten an gesetzlichen Regelungen, um sicherzustellen, dass bei Zwangsverheiratung der Aufenthaltstitel nicht nach sechs Monaten erlischt.
Wie stehen Sie zu muttersprachlichem Unterricht?
Das ist ein Thema, das mich aufregt. Diese Diskussion folgt der Denkstruktur: Türkisch, Kurdisch, Arabisch ist die Muttersprache. Dann wird gesagt: sie sollen zuerst einmal Türkisch lernen, und dann erst Deutsch. Lassen Sie sich nicht auf eine falsche Fährte führen. Man muss sich auf Mehrsprachigkeit konzentrieren, nicht auf Muttersprache. Auch Kinder, deren Mutter nicht Deutsch spricht, wachsen mehrsprachig auf, weil die Umgebung, in der sie leben, deutsch ist. Deshalb sollten diese Kinder in beiden Sprachen gefördert werden. Wenn die Mutter nicht Deutsch spricht, ist sie dafür verantwortlich, Kurdisch oder Türkisch gut zu vermitteln. Die Schriftsprache zu erlernen, ist immer wichtig, in jeder Sprache. Angebote zu machen, ist nicht falsch. Aber man muss von der Konzentration auf Einsprachigkeit wegkommen. Und weg von der pathologischen Idee, dass Sprache Identität ist. Damit reduziert man die Kinder auf ihr Migrant-Sein. Die Muttersprache ist Türkisch, also gilt das Kind als ewiger Migrant, weil es nur auf eine Sprache reduziert wird.
Man sollte also eine andere Sprache als Schriftsprache anbieten, aber die Unterrichtssprache ist Deutsch?
Ja. Es sei denn, dass die Schule Bilingualität als Konzept hat. Aber in den staatlichen Schulen, wo die Hauptsprache Deutsch ist, ist es falsch, Kinder in einen sogenannten muttersprachlichen Unterricht zu drängen, weil man sie so aus der Gemeinschaft hinaus diskriminiert. Wie sollen denn diese Kinder Deutsch verinnerlichen, das wichtig ist für eine transkulturelle Identität, wenn sie immer nur hören: "Deine Identität ist Türkisch." Meine Identität ist Deutsch und Türkisch. Ich habe eine transkulturelle Identität, weil ich in beiden Sprachen träume, fühle, denke. Und die beiden Kulturen genau kenne, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der beiden Kulturen und Sprachen verinnerlicht habe.
Das schaffe ich aber nur, wenn ich das Deutsche ebenfalls als Identität annehme wie das Türkische. Wenn man das nicht tut, werden die Kinder immer sagen: Türkisch ist unsere Sprache, und Deutsch ist die Sprache der anderen. So wird man das Integrationsproblem nie los. Und das in einer globalisierten Welt! Auch die österreichischen Kinder müssen Angebote bekommen, Türkisch, Polnisch, Russisch und so weiter zu lernen. Wer hat kein Problem mit anderen Kulturen? Diejenigen, die mehrere Sprachen sprechen und viel reisen.
Zur Person:
Seyran Ates, 1963 als Tochter eines kurdischen Analphabeten und einer Türkin in der Türkei geboren, kam mit sechs Jahren nach Berlin und musste dort das typische Leben einer kleinen Türkin führen: Musste Eltern und Bruder bedienen, durfte das Haus nicht allein verlassen, wurde beschimpft und geschlagen. Der Start in der Schule war schwer: Sie konnte nicht Deutsch und blieb isoliert. Dank zäher Anstrengungen konnte sie sich Wissen und Anerkennung erwerben - und wurde sogar zur Schulsprecherin gewählt. Mit 18 verließ sie heimlich die Eltern, weil sie die Diskrepanz zwischen familiärem und schulischem Leben nicht länger ertrug. Sie legte das Abitur ab und begann ein Jusstudium. Um sich das Studium zu finanzieren, arbeitete sie in einer Beratungsstelle für türkische und kurdische Frauen. Während einer Beratung schoss ein erboster Ehemann auf sie und ihre Klientin. Sechs Jahre laborierte sie an den Verletzungen, hat heute noch Schmerzen davon. Aber sie schloss ihr Studium ab und arbeitete als Anwältin. Offene Gewalt und ständige Bedrohung veranlassten sie schließlich dazu, ihre Kanzlei zu schließen. Heute hat sie ihre Anwaltstätigkeit wieder aufgenommen - allerdings unter geheim gehaltener Adresse. Ates ist vielfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Deutschen Bundesverdienstkreuz), berät die Politik, arbeitet in internationalen Frauen-Netzwerken und publiziert (zuletzt: "Der Multi-Kulti-Irrtum", Ullstein-Verlag 2007).