Istanbul - Mit keinem anderen Land hat die Türkei derzeit einen solch regen und ranghohen Besucheraustausch wie mit Israel: Seit April waren zuerst der Außenminister, dann der Verteidigungsminister und dann der Generalstabschef aus Israel in Ankara, heute, Mittwoch, kommt nun auch noch Ministerpräsident Ariel Sharon.
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Was in normalen Zeiten Anlass wäre, die florierende strategische Partnerschaft zwischen der moslemischen Türkei und dem jüdischen Staat zu feiern, wird durch die Gewalt im Nahen Osten nun zu einer Gratwanderung für Ankara. Einerseits will die Türkei in der islamischen Welt nicht als "Schoßhund" des jüdischen Staates dastehen; andererseits soll das Bündnis mit Israel nicht gefährdet werden. Es wird für die türkische Regierung unter Bülent Ecevit nicht leicht sein, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden: Schon vor Sharons Besuch sieht sich die Türkei den Forderungen Israels und der Araber gegenüber, Druck auf die jeweils andere Seite zu machen.
Seit Israel und die Türkei 1996 ein Militärabkommen schlossen, wird die Zusammenarbeit des seltsamsten Paars im Nahen Osten immer enger. Beide Seite ziehen Vorteile daraus. Da die Türkei in westlichen Staaten nur unter großen Schwierigkeiten Rüstungsgüter kaufen kann, empfiehlt sich Israel als Lieferant. Dass Ankara wegen der schweren Wirtschaftskrise Zahlungsprobleme hat, tut der türkisch-israelischen Freundschaft keinen Abbruch. Zur Zeit wird überlegt, ob die Türkei ihre Rüstungsaufträge an Israel mit Wasser statt mit Geld bezahlen könnte: Beide Länder verhandeln schon seit geraumer Zeit über die Lieferung von Trinkwasser aus dem südtürkischen Fluss Manavgat an Israel. Tel Aviv will sich zudem bei den USA für die Lieferung moderner Abfang-Raketen vom Typ "Arrow" an die Türkei einsetzen.
Die türkische Nahost-Politik ruht aber nicht nur auf der Zusammenarbeit mit Israel, sondern auch auf einer engen Partnerschaft mit den Palästinensern, deren Vertretung in Ankara den Rang einer Botschaft hat. Die Türkei unterstützt offiziell das Ziel eines unabhängigen Palästinenserstaates. Einige der in den Kämpfen mit den Israelis verletzten Palästinenser wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Präsident Yasser Arafat gehört zu den gern und häufig gesehenen Gästen in Ankara.
Diese Doppelgleisigkeit hat der Türkei viel außenpolitisches Prestige gebracht. Schließlich gibt es nicht viele Staaten in der Region, die sowohl zu Israel als auch zu den Palästinensern ein gutes Verhältnis haben. Doch jetzt muss sich zeigen, ob die Position Ankaras mehr ist als der Versuch, es allen recht zu machen. Die harte Haltung Sharons im Konflikt mit den Palästinensern bringt die Türkei in Erklärungsnöte: Was will die Türkei im Nahost-Konflikt? Auf welcher Seite steht sie, wenn es haarig wird?
Angesichts der jüngsten Angriffe der israelischen Armee auf potenzielle palästinensische Attentäter sah sich Ankara bereits gezwungen, Sharons Regierung scharf zu kritisieren. Der türkische Außenminister Ismail Cem reiste vergangene Woche eigens nach Ägypten, um die arabische Welt im Vorfeld der Sharon-Visite zu beruhigen.
Doch damit allein kann Ankara den durch den Besuch schon jetzt entstandenen Druck nicht mindern. Marwan Barguti, der Chef von Arafats Fatah-Bewegung im Westjordanland, rief die Türken zu Protesten gegen Sharon auf. Barguti hat allen Grund, Sharon zu attackieren: Erst vergangene Woche entging er bei einem Raketenangriff der Israelis auf einen Autokonvoi nur knapp dem Tod. In der Türkei erklärte ein Rechtsprofessor unterdessen, die türkische Staatsanwaltschaft könne wegen den 1982 verübten Massakern in den libanesischen Flüchtlinglagern Sabra und Shatila gegen Sharon aktiv werden.
Dagegen appellierte der israelische Premier selbst in Interviews türkischer Medien an die Türkei, sie solle ihren Einfluss bei den Palästinensern geltend machen, um Arafat vor Augen zu führen, dass er mit Terror nichts erreichen werde. So mancher Außenpolitiker in der türkischen Regierung dürfte sich insgeheim wünschen, dass Sharon schon wieder zu Hause sei. Am Dienstag kam es im zu anti-israelischen Demonstrationen.