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Sharon hat seinen letzten Kampf verloren

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Israels Ex-Premier starb 85-jährig in Tel Aviv.


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Jerusalem. Im Jänner letzten Jahres staunte ein Forscherteam noch über Ariel Sharon, als er mit "hoher Gehirnaktivität" auf ihm gezeigte Familienfotos reagierte. Sieben Jahre davor, am vierten Jänner 2006, erlitt er einen Schlaganfall und fiel in ein Wachkoma, aus dem er nie mehr aufwachen sollte. Acht Jahre danach ist er diesen Samstag in seinem Krankenbett im Alter von 85 Jahren an mehrfachem Organversagen gestorben.

Als politische Führungsfigur und Militärstratege prägte er den Nahen Osten in fünf Jahrzehnten Zeitgeschichte. Es war eine Geschichte von Krieg, nationalem Mythos und politischem Strategiespiel. In Sharons Werdegang spiegeln sich die Ambivalenz des zionistischen Nationalprojekts und ihre fatalen Folgen für die palästinensische Bevölkerung wider. Er hatte viele Namen: "Krieger" und "Bulldozer", "Vater der Siedlerbewegung" und "Ikone". In Israel kannte man ihn unter dem Spitznamen Arik. Dabei würde der Sohn jüdischer Einwanderer aus Weißrussland eigentlich Ariel Scheinerman heißen. Doch wie viele Andere änderte er seinen Namen als Ausdruck einer neuen Identität im "jüdischen Staat".

Notstand als Ideologie
Schon als Jugendlicher engagierte sich Ariel Sharon in der vorstaatlichen Untergrundmiliz Haganah. Nach der israelischen Staatsgründung 1948 war er kurz beim Geheimdienst und studierte an der Universität in Jerusalem. Bis er 1953 zum Kommandanten der berüchtigten Spezialeinheit 101 wurde. Diese hatte zum Ziel, durch unkonventionelle Operationen im Palästinensergebiet den Feind im Keim zu ersticken. Einer dieser Angriffe im Dorf Qibya im Westjordanland forderte das Leben von 60 palästinensischen Zivilisten und ging als Massaker in die Geschichte ein.

Durch die Einheit-101 war Sharon bereits früh in die innersten Zirkel der Macht eingeweiht und stand in ständigem Kontakt mit Ministerpräsident David Ben-Gurion sowie Generalstabchef Moshe Dayan. Letzterer fusionierte die Einheit später mit den Fallschirmjägern. Sharon führte ihr Kommando im Suezkrieg von 1956. Schnell kletterte er in den 1960er Jahren die Karriereleiter der Armee hinauf und reformierte sie von unten. Im Sechstagekrieg von 1967 etwa durchbrach er die ägyptische Befestigungslinie auf dem Sinai durch eine unkonventionelle Strategie: Statt der üblichen Verteidigungslinie formte er ein Netzwerk an flexiblen Stützpunkten und mobilen Einheiten, die simultan eine Vielzahl von feindlichen Einheiten angriffen. Sharon wurde zum lebenden Mythos der Außengrenze. Und diese wurde unter seinem Einfluss zunehmend als etwas Formbares verstanden. Ebenso die Grenzen legitimer Staatsgewalt.

Sharon perfektionierte fortan das Zusammenspiel von Territorium und Politik und war federführend in der Konstruktion der israelischen Doktrin, die den Ausnahmezustand durch die ständige Verschärfung von Militärgewalt und Landnahme zur Nationalideologie machte. So verkörperte er für die Jugend seiner Zeit auch einen israelischen Patriotismus, der sich zunehmend militärisch definierte.

Mit dem Juni-Krieg von 1967, als Israel das Westjordanland und Ostjerusalem sowie den Gazastreifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel besetzte, widmete sich Sharon palästinensischen Widerstandskämpfern im Gazastreifen. Sharon der "Bulldozer" ging abermals kompromisslos vor: Um das Territorium und seine Bevölkerung unter absolute Kontrolle zu bringen, ließ er ganze Straßen durch die Mitte palästinensischer Flüchtlingslager bauen. In sieben Monaten wurden 6000 Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als tausend Palästinenser wurden unter seinem Kommando getötet. Mit den "fünf Fingern" jüdischer Siedlungen vertiefte er die Zerteilung des Gazastreifens und damit die Unterdrückung seiner Bevölkerung.

"Gefahr für die Demokratie"
Sharons Maßnahmen waren "effektiv". Doch sie provozierten auch Kritik. So nannte ihn Ministerpräsidentin Golda Meir einmal eine "Gefahr für Israels Demokratie", einen "Mann, der die Knesset (das israelische Parlament) mit Panzern umzingeln könnte." Doch Panzer waren nun nicht mehr nötig. Sharon hing seine Uniform an den Nagel und baute die rechtsliberale Partei Likud mit auf.

Nicht zuletzt dank Sharons Image als begnadeter Militärstratege gewann der Likud im Jahr 1977 nach 30 Jahren Linksbündnis-Regierung erstmals die Wahlen. Sharon selbst wurde Landwirtschaftsminister. Ein unspektakuläres Ressort, das er für einen ganz anderen Zweck instrumentalisierte: den Bau jüdischer Siedlungen im besetzten Palästinensergebiet.

Schon in den frühen siebziger Jahren ließ er 5000 Beduinen im Süden des Gazastreifens umsiedeln, um dort die jüdische Siedlung Yamit aus angeblichen Sicherheitsgründen aus dem Boden zu stampfen. Sharon gilt als "Vater der Siedlungsbewegung", auch wenn er nicht die einzige Triebkraft dahinter war. Doch auch hier waren Sharons Methoden "speziell": Im Westjordanland der 1970er Jahre forcierte er die Besatzung strategisch wichtiger Hügel durch eine Vielzahl sogenannter "Außenposten", am Anfang meist nicht mehr als einige Zelte und Wohncontainer. Doch Sharon wusste: Sind sie einmal dort, werden sie bleiben. Und er sollte rechtbehalten. Seine Hügelpolitik wurde zum effektiven Mittel des zionistischen Kolonialprojekts, eine Fortsetzung von Krieg mit anderen Mitteln.

Umso überraschender war es für die Siedlerbewegung, dass Sharon im Mai 2003 vor Parteimitgliedern verkündete: "Die Besatzung kann nicht ewig weitergehen. Heute gibt es 1,8 Millionen Palästinenser, die von Internationalen Organisationen ernährt werden. Wollt ihr diese Pflicht auf euch nehmen?" Sharon erklärte seine Unterstützung für die als "Roadmap" bekannte Friedensinitiative von US-Präsident George Bush. Kurz darauf machte er seine Entscheidung, alle Siedler aus dem Gazastreifen zu evakuieren, öffentlich. Schon am 12. September 2005 war der Gazastreifen entkolonialisiert.

Die politische Karriere Sharons foltge auf die militärische. Doch dann führte er Israels Truppen 1982 als Verteidigungsminister tief in den Libanon, mit dem Ziel die dort stationierte Palästinensische Befreiungsorganisation PLO zu neutralisieren und die Hauptstadt Beirut in 96 Stunden einzunehmen. Vor den Augen der israelischen Armee richteten verbündete christlich-libanesische Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila ein blutiges Massaker an. Sharon wurde für verantwortlich erklärt. Sein politisches Image erholte sich von dem Debakel, nachdem er unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (Likud) 1996 Infrastrukturminister und später Außenminister wurde. Nach dem Zusammenbruch der amtierenden Regierung Ehud Baraks (Arbeitspartei) im Jahr 2001 wurde Sharon Ministerpräsident.

Den Wählern hatte er versprochen, der derselben palästinensischen Intifada etwas entgegenzusetzen, die er durch einen provokanten Besuch am heiligen Tempelberg in Jerusalem im September 2000 ausgelöst hatte. Um Attentate aus den Palästinensergebieten abzuwehren, leitete Sharon den Bau einer Mauer ein, deren heutiger Plan eine Länge von 708 Kilometern umfasst, das Westjordanland im Zickzack umzingelt und zerschneidet – und natürlich großzügig auf palästinensischem Land um die israelischen Siedlungen herumgebaut wurde. In der frühen Bauphase wanderte Sharon wie schon im Siedlungsbau durch das Terrain, wurde im Hubschrauber über das Westjordanland geflogen und studierte die Landkarten. Sharon, der "Bulldozer", war zurückgekehrt. Und als solcher war er auf sein Lieblingsgebiet zurückgekehrt: Land und Territorium sowie dessen Zerstückelung zum erklärten Zwecke der Sicherheitspolitik.

Der unvollendete Neustart
Dabei geriet gerade er wegen eines Kompromisses zunehmend in Bedrängnis jener, die politisch noch kompromissloser waren als er: Die Parteifreunde und ihre Siedlerlobby wollten ihm die Evakuierung der Siedlungen im Gazastreifen nicht verzeihen. Sharon gründete seine eigene Partei: Kadima, "Vorwärts".

Es stand ein weiterer Aufstieg bevor und die Umfragewerte vor den Wahlen 2006 zeichneten Sharon abermals als möglichen Ministerpräsidenten. Doch dann ereilte ihn der Schlaganfall und Ehud Olmert übernahm seine Partei, die heute schon fast wieder Geschichte ist. Was bleibt sind Militarismus, Kriegserinnerungen und der ambivalente Gedanke, dass Sharon vielleicht noch weitere Siedlungen aus dem Palästinensergebiet evakuiert hätte. Auch dazu braucht es im heutigen Israel einen Bulldozer, denn dort, wo Sharon Hügelsiedlungen in die palästinensische Erde pflanzte, breiten sich mittlerweile 300.000 Siedler aus.