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Sheldrake, Rupert: Der Wissenschaftswahn

Von Peter Jungwirth

Reflexionen

In seinem neuen Buch, "Wissenschaftswahn", plädiert der Biologe Rupert Sheldrake dafür, die Annahme unwandelbarer Naturgesetze durch jene von wandelbaren Naturgewohnheiten zu ersetzen.


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Genie oder Scharlatan? Diese Frage spaltet seit drei Jahrzehnten sein Publikum. Seit der britische Biologe Rupert Sheldrake 1981 mit seinem auch von der scientific community beachteten Buch "A New Science of Life" (deutsch: "Das schöpferische Universum") aus dem wissenschaftlichen Mainstream ausgeschert ist und in der Folge zum Bestsellerautor und Privatgelehrten wurde, provoziert er mit esoterisch anmutenden Thesen und parapsychologischen Experimenten die Wissenschaft.

Umstrittener Wissenschaftskritiker: Rupert Sheldrake.
© J. Hill/droemer

Mit dem Namen Sheldrake untrennbar verbunden ist seitdem der Begriff morphogenetisches Feld - der allerdings gar nicht von Sheldrake stammt. Von morphogenetischen Feldern wurde bereits in den 1920er Jahren in der Entwicklungsbiologie gesprochen, wenn es um die Frage ging, welche materiellen Ursachen Pflanzen und Tieren ihre spezifische Form geben. Nachdem Crick und Watson die Struktur der DNA entdeckten, schien diese Frage beantwortet. Für Sheldrake liegt in der in der DNA gelagerten Erbinformationen aber nur das Baumaterial; der Bauplan für Organismen steckt seiner Ansicht nach in besagten - immateriellen - morphogenetischen Feldern.

Dieser Vereinnahmung und Veränderung des Begriffes folgten Erweiterungen: Sheldrake benutzt ihn auch als Erklärung für paranormale Fähigkeiten bei Tieren und Menschen. Und zudem geht Sheldrake davon aus, dass sich der Einfluss morphogenetischer Felder auch auf die Naturgesetze erstreckt.

Exkommunikation?

In seinem heuer erschienen Buch, "Der Wissenschaftswahn - Warum der Materialismus ausgedient hat" (englisch "The Science Delusion"), fordert er daher nichts weniger als eine entsprechende Neuausrichtung der Naturwissenschaften. Die Annahme unwandelbarer Naturgesetze soll durch jene von wandelbaren Naturgewohnheiten ersetzt werden. Auf derartige Zumutungen reagiert die Wissenschaftsgemeinde normalerweise mit Exkommunikation. Hat Sheldrake den Bogen also nun endgültig überspannt?

Für viele Wissenschafter stellt sich diese Frage gar nicht mehr, weil sie Sheldrakes Thesen schon vor längerer Zeit in der Schublade mit der Aufschrift "pseudowissenschaftlich" endgelagert haben. Als Sheldrake in den frühen 1990er Jahren Ergebnisse anachronistisch anmutender Experimente veröffentlichte, die auf telepathische und sonstige übernatürliche Fähigkeiten bei Menschen und Tieren hinwiesen, erregte er damit zwar populärwissenschaftliches Interesse. Beim Großteil des wissenschaftlichen Establishments - aus dem Sheldrake stammt: er hat in Cambridge in Biochemie promoviert, in Harvard Philosophie studiert und war in führenden Positionen in der internationalen Forschung tätig - war er danach allerdings abgeschrieben.

Vielleicht vorschnell. Einige renommierte Quantenphysiker, darunter David Bohm und Hans-Peter Dürr, plädierten damals jedenfalls für eine ernsthafte Untersuchung von Sheldrakes Thesen. Dürr und Franz Theo Gottwald "stifteten" eine interdisziplinäre Diskussion an, deren 1997 publiziertes Resultat nicht nur wegen der Einschätzung Sheldrakes interessant ist, sondern auch, weil sie die gegenläufige Entwicklung zweier naturwissenschaftlicher Disziplinen sichtbar macht.

Sheldrake befindet sich demnach "mit seiner Theorie gewissermaßen im Niemandsland zwischen den von Form-Denkern zu Stoff-Denkern arrivierten Biologen und den in der Zwischenzeit von Stoff-Denkern zu holistischen, nicht-materialistischen Form-Denkern gewordenen Physikern. Was bei Sheldrake den einen zu ,altmodisch vitalistisch‘ erscheint, ist für die anderen zu ,altmodisch objektivistisch‘. Vielleicht prädestiniert aber gerade diese Zwischenstellung Sheldrakes Theorie dazu, Brücken zwischen verschiedenen, heute miteinander ringenden biologischen Weltansichten zu schlagen und herrschende Naturwissenschaft mit verdrängter Naturwissenschaft und Außenseiter-Wissenschaft konstruktiv zu verbinden sowie der Naturwissenschaft allgemein den Einstieg in eine ,Nachmaterialistische Wissenschaft‘, wie sie schon von der modernen Physik vorgezeichnet wird, zu erleichtern."

Ob Sheldrake der Sprung vom Außenseiter zu einem Pontifex der Wissenschaften gelingt, darf auch anderthalb Jahrzehnte nach dieser Einschätzung bezweifelt werden. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass er sich auch künftig als populärwissenschaftlicher Autor über viele Leser freuen darf. Denn ziemlich zielsicher hat er auch in "Wissenschaftswahn" viele interessante Fragen gestellt und dabei meist den richtigen Ton getroffen. Und fest steht zumindest, dass Irren menschlich ist.

Materialistische Rätsel

Dass aber eben diese menschliche Fehlbarkeit naturgemäß auch in der Wissenschaft einen ganz vorzüglichen Nistplatz gefunden hat, ist eines der großen Themen, denen sich Sheldrake in seinem neuen Buch mit Hingabe widmet, und die er auch mit feinem Humor zu behandeln weiß.

Thematisch spannt er einen Bogen vom Mikro- bis zum Makrokosmos, und sein Fokus liegt wenig überraschend dort, wo die materialistische Wissenschaft gerade gröbere Rückschläge zu verdauen oder mit Rätseln kosmischen Formats zu kämpfen hat. In der Biologie etwa hat das Humangenomprojekt, verglichen mit den hohen Erwartungen, bis jetzt nur sehr ernüchternde Resultate gebracht. Die Molekularbiologen wollten in den Genen die Schlüssel zu allem finden. Bisher wurden aber nur wenige Direktverbindungen von Genen zu Funktionen und Krankheiten gefunden. (Das Zusammenspiel der Gene ist zu komplex, um daraus bisher in großem Stil Erfolg versprechende therapeutische Maßnahmen abzuleiten.)

In der Kosmologie verstören Begriffe wie "dunkle Energie" und "dunkle Materie" für Phänomene, die noch völlig ungeklärt sind, nach derzeitigem Erkenntnisstand aber mehr als 95 Prozent der Energie und Masse unseres Universums ausmachen.

Herausfordernd für die Materialisten sind auch die Werte von sechs physikalischen Grundkonstanten unseres Universums. Sie sind genau so, dass sie organisches Leben ermöglichen - wären sie nur minimal anders, wäre das nicht der Fall. Ein unglaublicher Zufall? Oder gar, Galilei behüte, ein Indiz für einen göttlichen Schöpfungsplan? Die Theorien, mit deren Hilfe Materialisten diese für ihre Weltsicht existenzbedrohende Frage derzeit umschiffen, wirken ähnlich bizarr, wie die Vorstellung, Naturgesetze könnten sich ändern: Es gibt nicht nur ein Universum, sondern so viele, dass es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nur eine Frage der Zeit war, bis in einem davon - unserem - zufällig die Bedingungen für die Entstehung von organischem Leben gegeben war. (Bemerkenswert ist, dass dabei die Existenz von bis zu 10500 Universen angenommen wird. Eine Zahl von so unfassbarer Größe, dass dagegen selbst die geschätzte Zahl von Elementarteilchen, aus denen unser Universum besteht - 1080 - nur verschwindend klein ist.)

Leicht lesbar

Zu den großen Vorzügen von "Wissenschaftswahn" zählt, dass sein Autor nicht nur eine erstklassige Ausbildung in Cambridge und Harvard und jahrelange Erfahrungen als prominenter Außenseiter der Wissenschaft einbringen kann, sondern auch, dass er - genau wie sein Übersetzer Jochen Lehner - sehr gut schreiben kann. Sheldrakes Geschichte der Wissenschaft und des Materialismus wirkt daher nicht nur profund, sondern ist auch erfreulich leicht lesbar. Und an der Darstellung führender Köpfe des Materialismus muss Sheldrake auch nicht lange feilen. Er hat Protagonisten wie Francis Crick und Richard Dawkins persönlich getroffen, daher sind seine Porträtskizzen dieser Herren gestochen scharf.

Besonders die Konfrontation mit Richard Dawkins ist von Bedeutung, weil der Titel von Sheldrakes Buch auf Dawkins’ programmatischen Bestseller "Der Gotteswahn" anspielt. Das könnte zu Missverständnissen führen. Denn Dawkins ist ein erklärter Gegner der Religion. Sheldrake hingegen ist, obwohl der Titel "Wissenschaftswahn" dies nahelegt, kein Gegner, sondern ein dezidierter Anhänger der Wissenschaft. Er findet nur ihre Arroganz abstoßend, ihren Dogmatismus dysfunktional und ihre große finanzielle Abhängigkeit gefährlich.

Im Übrigen begnügt sich Sheldrake nicht damit, Kritik zu üben, sondern er macht auch konstruktive Verbesserungsvorschläge. Eine seiner Forderungen ist etwa, zumindest über einen Teil der wissenschaftliche Etats in Zukunft auch die Bürger abstimmen zu lassen - "Occupy Forschung" sozusagen. Eine Idee, für die die Zeit wohl reif ist, und für die es bereits Unterstützer sowohl in Naturschutzverbänden als auch bei Vereinigungen von Wissenschaftern gibt.

Methodisch korrekt

Genie oder Scharlatan also? Wohl keines von beiden. Sheldrake fällt mit seinen Forschungsthemen am Beginn des 21. Jahrhundert zwar aus der Norm. Aber die dahinter stehenden Ideen sind weniger originell, als es auf den ersten Blick aussehen mag: Als Vorläufer für seine Theorie der morphogenetischen Felder könnte man beispielsweise die Serialitätstheorie des Biologen Paul Kammerer oder die Synchronizitätstheorie des Psychologen C. G. Jung und des Physikers Wolfgang Pauli ansehen. Und zum anderen arbeitet Sheldrake - dreiste Fälschung hat ihm bisher noch niemand unterstellt oder nachgewiesen - methodisch offenbar so korrekt, dass auch der Vorwurf der Pseudowissenschaftlichkeit ungerecht erscheint.

Ein Vorwurf, den man Sheldrake machen könnte, ist jener, dass er über die möglichen unerfreulichen Konsequenzen des von ihm geforderten Paradigmenwechsels zu wenig gründlich nachgedacht hat. Wenn es zum Beispiel stimmt, dass der soeben erwähnte Wolfgang Pauli - ein Nobelpreisträger und Star der Physik - einst durch seine bloße Präsenz in einem Labor technische Geräte auf immaterielle Art zerstört hat, woraufhin er von Kollegen aus dem Labor verbannt wurde, dann mag das zwar ein Indiz für die Wirkmacht morphogenetischer Felder sein. Aber auch dafür, dass die Befassung mit diesem Zweig der Wissenschaft jene Schachtel mit der Aufschrift "Pandora" öffnen würde, in welche die Aufklärung alle Dämonen, Gespenster und Hexen gesteckt hat . . .

Ein Vorwurf, der den siebzigjährigen, noch immer jugendlich wirkenden Sheldrake zu Lebzeiten wohl nicht mehr treffen wird, ist der, dass er mit seinen Themen gänzlich aufs falsche Pferd gesetzt hat. Ärgerlich an dem neuen Buch ist letztlich nur, dass es ohne Personen- und Stichwortregister auskommen muss, was bei einem Wissenschaftsband, dessen Literaturliste über 300 Autoren und Quellen verzeichnet, unverständlich ist.

Rupert Sheldrake: Der Wissenschaftswahn.
Warum der Materialismus ausgedient hat. Sachbuch. Aus dem Englischen von Jochen Lehner. O. W. Barth Verlag, München 2012, 491 Seiten, 24,99 Euro.