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Sibylle Berg

Von Verena Mayer

Reflexionen

Die Schriftstellerin Sibylle Berg über Kreuzfahrten, Schreibkurse, Israel, die DDR, ihre Wahlheimat Schweiz - und über die Utopie einer Welt ohne Geschlechterzuweisungen.


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"Wiener Zeitung": Frau Berg, Sie waren gerade mit einem Kreuzfahrtschiff der Costa-Linie unterwegs. Hatten Sie Angst?

Sibylle Berg: Ein wenig, nachdem ich verstand, warum die Passagiere der Costa Concordia nicht einfach ins Wasser gesprungen sind. Viele Kajüten haben nur ein Bullauge, und diese Cruisingschiffe sind so hoch wie drei Hochhäuser. Es gab eine Evakuierungsübung, danach war klar: Ein solches Schiff kann man nicht evakuieren. Allein 5000 Touristen in Fünferreihen aufzustellen, dauerte fast 50 Minuten. Addiert man dazu Dunkelheit, Panik und ein havariertes Schiff, begreift man den Unsinn der Übung.

Warum waren Sie überhaupt auf Kreuzfahrt?Ich wollte herausfinden, was so großartig daran ist, in einem Vergnügungspark auf dem Meer herumzufahren. Erst dachte ich: Die Menschen wollen miteinander sein, Romantik erleben. Im Verlauf der Reise wurde mir klar: Sie wollen vor allem All you can eat, und billig wollen sie es! Der Mensch in einer Sardinenbüchse tanzt Samba, und drei riesige Cruising-Line-Unternehmer verdienen Milliarden. Das Elend des Massentourismus hat sich aufs Meer verlagert.

Wenn Sie nicht auf einem Schiff sind, reisen Sie gerne nach Israel, das Sie einmal "Land der Ex- treme" nannten.

Israel ist ein sehr junges Land, errichtet auf Überlebenswillen, Stolz und Trotz. Die ständige Bedrohung der Existenz, die Anfeindung aus aller Welt erzeugen eine gewisse Dünnhäutigkeit im Alltag und eine überbordende Lebenslust. Dazu kommt, dass so viele unterschiedliche Menschen zusammenleben: Araber, Christen, Juden, Äthiopier, Europäer, unbeliebte Siedler, meist aus Amerika. Es ist ein ständiges Sich-Reiben, Bekämpfen, Arrangieren. Ich war gerade bei den Esoterikern im Norden des Landes, in dem die Dichte an Sekten, Veganern, Nudisten besonders hoch ist. Ich habe einen Herrn getroffen, der einen vegetarischen Kibbuz aufgebaut hat. Der Mann klang patent und sympathisch, ab und zu erscheinen ihm Rudolf Steiner und der Erzengel Michael.

Was zieht Sie so oft nach Israel?

Ich habe Familie dort, einen Mann aus Israel, viele Freunde. Und ich fühle mich körperlich wohl in dem Land. Ich versuche immer wieder über den normalen israelischen Alltag zu berichten, denn wie sich viele Deutsche im Ausland sofort zu Hitler äußern müssen, werden Israelis als erstes immer zum Nahostkonflikt befragt, den sie genauso wenig beeinflussen können wie Deutsche ihre Geschichte.

Haben Sie sich geärgert, als Günter Grass dichtete, er wolle über Israel sagen dürfen, "was gesagt werden muss"?

Mich hat vor allem die Wucht der Diskussion verstört. Der Mann ist ungefähr 119, ich weiß auch nicht, was ich in dem Alter schreiben werde. Lasst ihn doch in Ruhe auf seiner Wiese sitzen, das ist Demokratie.

Sie kommen viel herum. Gibt es Länder, in die Sie nicht fahren würden?

Ich würde nicht in Länder reisen, in denen ich mich als Frau nicht frei bewegen kann. Vermutlich würde ich heute auch nicht mehr in Kriegsgebiete reisen. Ich schaue heute lieber Wände an, als mich manisch durch die Welt zu bewegen, die ich in ihrer Komplexität sowieso nie verstehen kann.

Ihr neuer Roman, "Vielen Dank für das Leben", beginnt in der DDR, die Sie als Land der Alkoholiker zeichnen.

Alkohol war eine sehr verbreitete, weil billige Droge, und ohne Drogen funktionierte die Unterdrückung der Bevölkerung nicht.

Welche Erinnerungen haben Sie noch?

Die Angst vor Kälte. Ich wurde groß mit kaltem Wasser, das mit einem Kohleofen erhitzt werden musste, einer Badewanne im Keller, in die man aus dem Waschkessel Wasser schöpfte, dazu Kanonenöfchen, die gerade mal im Umfeld von einem Meter heizten. Falls man nicht vergessen hatte, Kohle zu bestellen. Wenn man nicht das Privileg hatte, in einem Plattenbau wohnen zu können, war es kalt.

Der Roman handelt von Toto, der in der DDR ins Heim kommt, in den Westen flieht, auf der Straße lebt, eine Figur, die in kein System passt.

Toto ist der Außenseiter, das Denkmal für alle, die sich aussetzen, die am Rande stehen - weil sie anders sind, nicht Normen entsprechen, wegen ihres Äußeren, ihrer Sexualität. Ich möchte zeigen, dass man dennoch unverletzt durch das Leben kommen kann, unbeschadet von allem, was allen von uns immer passiert. Die Demütigungen des Verlassenwerdens, der Krankheit, des Verlustes. Totos Geheimnis ist, nichts persönlich zu nehmen und seine Freundlichkeit zu behalten.

Toto ist Intersexueller. Wie kamen Sie auf dieses Thema?

Ich wollte eine Figur, die keine Frau und kein Mann ist. Der Prototyp des Menschen. Das ist meine Utopie einer Welt ohne Geschlechterzuweisungen. Bis ins frühe 19. Jahrhundert mussten sich Intersexuelle nicht entscheiden, welchem Geschlecht sie zugehören wollen. Das kam erst um 1830.

Toto verlässt die DDR mit Anfang 20. Als Sie 1984 nach West-Berlin kamen, waren Sie genauso alt. Ihr erster Eindruck damals?

Völliges Unverständnis, ich hätte auch in Nauru ankommen können. Ich habe fünf Jahre gebraucht, bis ich die Spielregeln ansatzweise begriff, die elementar anders waren. Allein der Unterschied, mit oder ohne Geld, das etwas bedeutete, aufzuwachsen! Die Sozialisierung durch kommunistische oder kapitalistische Gehirnwäsche war fundamental.

Sind Sie deswegen in die Schweiz gegangen?

Meine erste Reise ins Ausland war ins Tessin. Ich hatte einen Platz an der Artistenschule "Scuola Dimitri" bekommen. Das erste Mal wirkliche Freiheit, nach DDR und dem umzäunten West-Berlin.

Was haben Sie dort gemacht?

Akrobatik, Pantomime, Jonglage, Tanz. Meine rührende Idee war, Tanztheater zu machen, weil ich dachte, da müsste ich nicht reden. Leider hatte ich nicht bedacht, dass ich auf Bühnen hätte stehen müssen, was mir großes körperliches Elend verursachte. Durch Unterernährung und Kälte habe ich Gelenkrheuma bekommen, das zusammen mit meiner Talentlosigkeit meiner Bühnenlaufbahn ein rassiges Ende gesetzt hat.

Ihr Traum wurde dennoch wahr, seit 1996 leben Sie in Zürich.

Es war eine Liebesgeschichte zwischen dem Land und mir. Als ich in die Schweiz kam, haben sich die Menschen sehr gefreut, dass jemand in eine Stadt zog, in der alle Restaurants und Bars um 22 Uhr schlossen. Ich habe mich von Anfang an mit der etwas langsameren Art und dem Humor der Menschen zu Hause gefühlt. Es ist meine Heimat, wenn das meint, dass man sich nach einem Ort sehnt, wenn man weg ist.

Hat Sie die Schweizer Ordnungswut nie genervt?

Nein, Ordnung hat man doch auch in Deutschland oder Österreich sehr gerne. Manchmal stört mich die Selbstgerechtigkeit der Schweizer, die ihre privilegierte Situation für den Verdienst ihres Landes halten oder mit einer moralischen Überlegenheit verwechseln. Einmal wollten Nachbarn gegen mich prozessieren, weil ich Bambus im Garten pflanzte - weil das keine Schweizer Pflanze sei. Doch das sind Ausnahmen.

Eine Zeitlang haben Sie Schreibkurse unter dem Titel "Die harte Schule" angeboten. Wie hat man sich die vorzustellen?

Die Idee habe ich aus Österreich, wo ich Onlinedozentin für Dramaturgie an der Universität Graz war. Brillanter Einfall, Schreiben dort zu lehren, wo es stattfindet. Meinen Schülern helfe ich, ihre Themen zu konkretisieren, sie zu bestärken. Eine Schülerin zum Beispiel wollte ein zehnbändiges Werk über Elfen verfassen. Sehr gut. Warum nicht?

Eine Woche Kurs kostete 500 Euro. Konnte man danach wenigstens schreiben?

Schreiben, einigermaßen technisch zufriedenstellend, kann man ungefähr nach fünf Jahren täglicher Übung. Ein Monatskurs bei mir kostet 500 Franken. Kostete, weil ich keine Zeit mehr für die Schule habe. Ich vermittle Grundlagen. Wie man eine Geschichte aufbaut - oder: Adjektive töten! Manche Schüler reagieren, wie ich auch reagieren würde: böse, weil sie an die Brillanz ihrer Zeilen glauben. Ich habe auch schon Geld zurückgegeben. Denn ich möchte nicht diskutieren, warum "das goldhelle Lachen der glücklichen Elfenmutter" eine unglückliche Formulierung ist.

Wer sind Ihre Schüler?

Die Schüler waren eher jüngere Menschen, gleich viele Frauen wie Männer, die meisten Hobbyschreiber, und manche waren sehr gut. Einmal hatte ich einen 12-Jährigen, der erstaunlich erwachsen über Frauen schrieb. Sehr rätselhaft. Ein normaler Junge, die Eltern kamen mit ihm zu meiner Agentin. Ich riet ihm: Schreib über dein Leben, das will man lesen.

Und - ist er das neue Literaturwunderkind?

Nein, er fand es besser, Fußball zu spielen.

Toto aus "Vielen Dank für das Leben" findet in seinem Elend Trost im Gesang. Ist das nicht sehr bildungsbürgerlich gedacht, dass einen die Kunst vor dem Leben retten kann?

Ich stamme aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld. Für mich ist Kunst, Liebe und gutes Essen das Sinnstiftende in meinem Leben.

Sie schrieben einmal: Den Nächsten, der Sie zum Thema Selbstinszenierung befragt, schmeißen Sie aus dem Fenster.

Das ist vollkommen vom Körpergewicht des Anderen abhängig. Was oft als Selbstinszenierung kolportiert wird, meint doch nur den Umstand, dass ich mich ankleide, das Haus verlasse, dass ich, wenn ich ein neues Theaterstück oder Buch fertiggeschrieben habe, versuche, es bekannt zu machen, die Menschen zu informieren in einer Überflut von Produkten, die keiner benötigt. Alles, was als Selbstinszenierung beschrieben wurde, ist eine Verwechslung. Eine scheinbare Verfügbarkeit meiner Person, die ich nicht einlöse, das frustriert.

Anders als die meisten Schriftsteller sind Sie in den sozialen Medien präsent, haben Kontrolle über Ihr Bild in der Öffentlichkeit.

Das ist eine niedliche Idee. Man kann das Bild von sich nur beeinflussen, wenn man einen Stab an PR-Beratern und Anwälten hat. Ich kenne hier niemanden, dem das nach amerikanischem Vorbild gelänge. Ich möchte behaupten, dass kein Schriftstellerkollege sein Bild in der Öffentlichkeit vollkommen manipulieren kann. Jeder wird mit dem, was er schreibt, verwechselt . . .

Verena Mayer, geboren in Wien, Journalistin und Autorin, lebt nach einigen Jahren in Zürich nun in Berlin.

Zur Person:<br style="font-weight: bold;" /> Sibylle Berg, geboren 1962 in Weimar, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen und Dramatikerinnen ihrer Generation. Sie lebt seit 1996 in Zürich und ist seit heuer Schweizer Staatsbürgerin. Berg schreibt Romane, Essays, Kurzprosa und Theaterstücke. Zuletzt ist ihr Roman "Vielen Dank für das Leben" (Hanser Verlag, München 2012) erschienen.