Zum Urteil des EuGH über die Vorratsdatenspeicherung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 8. April 2014, mit dem die EU-Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig erklärt wurde, kann schlicht als eine Sensation bezeichnet werden. Mit wenigen, aber kräftigen Federstrichen hat der vom österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) angerufene EuGH für über 500 Millionen Menschen, die in der EU leben, eine Rechtslage beseitigt, mit der die fast flächendeckende, verdachtsunabhängige Speicherung personenbezogener elektronischer Verbindungs- und Standortdaten vorgeschrieben wurde. Technische Daten zwar, aus denen aber - insbesondere durch intelligente Verknüpfung - weitreichende Rückschlüsse auf die Inhalte unserer Kommunikation und unsere Lebensführung möglich sind.
Das Urteil ist deshalb bemerkenswert, weil es in ungeschminkter Manier die Richtlinie grundrechtlich gleichsam aus den Angeln hebt, wobei sowohl das Recht auf Achtung des Privatlebens als auch das Recht auf Schutz personenbezogener Daten der EU-Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstäbe herangezogen wurden.
Die Richtlinie wurde in übereilter und überzogener Reaktion auf die Terroranschläge von Madrid und London in den Jahren 2004 und 2005 geschaffen, um Terrorismus und organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Obgleich die Innenministerien aller EU-Staaten unisono die Vorratsdatenspeicherung als unerlässliches und effizientes Mittel dazu priesen, brachte ein Evaluierungsbericht der Europäischen Kommission im April 2011 trotz beschönigender Worte ans Licht, dass die Vorratsdatenspeicherung ein ziemlich ungeeignetes Mittel zur Aufdeckung und Verhinderung von Terror-Akten oder schwerer Fälle organisierter Kriminalität ist (schon alleine, weil sich diese Formen der Kriminalität weitgehend anderer, sicherer Kanäle bedienen). Die meisten Fälle, die zum Beispiel von den österreichischen Behörden in den Jahren 2012 und 2013 aufgeklärt wurden, betrafen hingegen keine schweren Straftaten, sondern Diebstahl, Suchtgifthandel, Stalking u.a., nur in einem Fall bestand ein - letztlich unbestätigter - Terrorverdacht.
Balance zwischen öffentlicher Sicherheit und Eingriffen in die Freiheitssphäre
Hier stellt sich die Frage nach der Balance zwischen angestrebter verbesserter öffentlicher Sicherheit und steigenden Eingriffen in unsere Freiheitssphäre, um vielleicht ein vages Quäntchen mehr an Sicherheit zu gewinnen. Unbeachtet bleibt dabei oft, dass Freiheit haben auch Sicherheit, nämlich Rechtssicherheit, bedeutet, der wir zugunsten der Schimäre absoluter Lebenssicherheit verlustig gehen.
Akribisch geht der EuGH in seinem Urteil genau dieser Frage nach und prüft, ob die Vorratsdatenspeicherung geeignet ist, die gesetzten Ziele der Bekämpfung des Terrors und der organisierten Kriminalität zu verfolgen, was er grundsätzlich - von Umgehungsmöglichkeiten abgesehen - zwar bejaht. Jedoch verneint er, dass die flächendeckende und verdachtsunabhängige Speicherung personenbezogener Daten, wie sie die Richtlinie vorsieht, erforderlich ist, das gesetzte Ziel zu erreichen, weil sie sich nicht auf das Notwendige beschränkt, keine näheren Differenzierungen enthält, keine klaren und präzisen Regeln für die Speicherung von und den Zugang zu Daten aufstellt und keine ausreichenden Garantien für deren Missbrauch vorschreibt. Vor allem wird auch bemängelt, dass es keine Ausnahmen für Träger von Berufsgeheimnissen gilt (Ärzte, Anwälte, Richter, Journalisten usw), und dass die Richtlinie den Zugang der Behörden nicht einer richterlichen Genehmigung und Kontrolle unterzieht. Von weiterer Brisanz ist die Feststellung des EuGH, dass die Daten wegen möglicher datenschutzrechtlicher Defizite nicht im EU-Ausland gespeichert werden dürfen.
EU-Staaten werden EuGH-Urteil strikt beachten müssen
Ob die EU in absehbarer Zeit eine neue, angepasste Richtlinie vorlegen wird, bleibt abzuwarten, darf aber angesichts der hohen Differenzierungs- und Determinierungsanforderungen des Urteils eher bezweifelt werden. Es ist nun an den EU-Mitgliedstaaten, ob sie - ohne die Vorgabe einer Richtlinie - die Vorratsdatenspeicherung auch in den nationalen Rechtsordnungen generell abschaffen oder jeweils nationale Lösungen finden, die den grundrechtlichen Wertungen des EuGH-Urteils entsprechen, die wohl auch dann zu beachten sind. Dies wird vor allem in Österreich intensiv zu diskutieren sein, da der VfGH in einer jüngeren Entscheidung festgestellt hat, dass diejenigen Rechte der Charta, die eine inhaltliche Entsprechung in der österreichischen Verfassung haben, auch innerstaatliche Geltung beanspruchen und vor dem VfGH durchgesetzt werden können - was für das Recht auf Privatleben wie auf Schutz personenbezogener Daten gilt. Letztlich werden alle EU-Staaten nicht an einer strikten Beachtung des EuGH-Urteils herumkommen, da diese auch an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden sind, die ein Recht auf Achtung des Privatlebens unter Einschluss des Datenschutzes enthält, das wohl im Sinne des EuGH-Urteils zu interpretieren ist. Möglicherweise wird nur eine Regelung verhältnismäßig sein, bei der in einem konkreten Verdachtsfall und aufgrund richterlicher Anordnung Daten "auf Vorrat" gespeichert werden, bis die Beweislage dicht genug ist einschreiten zu können.
Schon zu Beginn seines Urteils merkt der EuGH an, dass die Vorratsdatenspeicherung Auswirkungen auf die Nutzung moderner Kommunikationsmittel und dadurch auch auf die Ausübung unserer Meinungs- und Informationsfreiheit hat - die eine Grundvoraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft ist. Wir dürfen nicht zu "digital bewegten Menschen" werden, die ihr Leben - ähnlich wie in Diktaturen - ängstlich danach ausrichten, nicht abgehört und überwacht zu werden, nur um einen kleinen Raum an Freiheit und Sicherheit zu haben.
So gesehen ist das Urteil des EuGH ein Meilenstein in der Abwehr überbordender, freiheitsbedrohender Überwachungsfantasien und Sicherheitsphobien. Dass der EuGH Gelegenheit bekam, die "Gretchenfrage" zu beantworten, ob die Vorratsdatenspeicherung denn mit den Rechten auf Privatleben und auf Datenschutz vereinbar ist, verdanken wir den über 11.000 (!) Antragstellern an den VfGH - und diesem, der die Courage und Weitsicht hatte, diese Frage an den EuGH heranzutragen.