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Sicherheitstest kaum durchführbar

Von Roland Knauer

Wissen
Laborratten: Bis zu 90 Prozent werden für die REACH-Fortpflanzungsversuche eingesetzt. Foto: wikimedia

Kostenschätzung der EU schon jetzt vielfach übertroffen. | Mehr Länder, Hersteller und neue Verbindungen. | Berlin. Als die Europäische Union (EU) am 1. Juni 2007 einen Sicherheitstest für Chemikalien einführte, hatte sie die Kosten für diese Verordnung zur Registrierung, Evaluierung, und Autorisierung von Chemikalien (REACH) vorab schätzen lassen, um teuren Überraschungen vorzubeugen. Zwischen 1,2 und 2,4 Milliarden Euro sollten die Überprüfungen kosten. Diese Zahl aber dürfte die wahren Kosten gewaltig unterschätzen, argwöhnen der Toxikologe Thomas Hartung ( Universität Konstanz und US-amerikanischen John-Hopkins-Universität, Baltimore) und die Chemikerin Costanza Rovida aus dem italienischen Varese in "Nature".


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Nach ihrer Rechnung dürfte REACH nicht nur ungefähr 9,5 Milliarden Euro teuer werden, sondern auch 54 Millionen Versuchstiere das Leben kosten. Damit nicht genug, habe die EU bei weitem nicht die Kapazitäten zur Durchführung.

Aus der Luft gegriffen sind diese Berechnungen nicht, bestätigt Manfred Liebsch vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin: "Das ist durchaus realistisch." Droht die für die Sicherheit der 500 Millionen EU-Bürger gedachte Verordnung zu scheitern?

Egal, ob neu oder alt

Wer in der EU im Jahr mehr als eine Tonne einer chemischen Verbindung herstellt, muss nachweisen, dass diese Chemikalie Umwelt und Menschen nicht gefährdet, verlangt REACH. Und das unabhängig davon, ob er die Verbindung gerade erst auf den Markt bringt, oder ob sie bereits seit Jahrzehnten gehandelt wird. "Für diesen Nachweis sind keineswegs immer neue Versuche notwendig, auch alte Informationen aus früheren Untersuchungen sollen zur Beurteilung heran gezogen werden", erklärt Liebsch.

Nur wenn die Daten zu den Altsubstanzen nicht ausreichen, müssen bestimmte Tests nachgeholt werden. Stellt sich dabei eine Gefährdung heraus und gibt es als harmlos eingestufte Alternativen, muss der Hersteller in Zukunft diese einsetzen.

Als Wissenschaftler am BfR 2003 die Kosten für REACH abschätzte, mussten sie von den 15 Ländern ausgehen, die damals zur EU gehörten. Seither sind zwölf weitere Länder beigetreten, die Nicht-EU-Staaten Schweiz, Norwegen und Island machen ebenfalls mit und auch die Zahl der Hersteller und Chemikalien nahm zu. In den meisten Jahren wächst auch noch die Produktion und es kommen wieder neue Verbindungen auf den Markt.

Diese Entwicklung schlägt sich überdeutlich in einer Voranmeldungsphase für REACH-Chemikalien im zweiten Halbjahr 2008 nieder. Rechnete die EU noch mit 27.000 Firmen und 180.000 Einreichungen, überforderten tatsächlich 65.000 Firmen mit 2,7 Millionen Voranmeldungen die zuständigen Stellen. Statt der erwarteten 29.000 Chemikalien wurden mehr als 140.000 registriert.

Die Entwicklung hat damit die offiziellen Schätzungen der EU und die BfR-Berechnungen aus den Jahren 2003 und 2004 weit übertroffen, die zum Beispiel von rund 7,5 Millionen Versuchstieren für REACH ausgingen. Daher setzten sich Hartung und Rovida an ihre Computer, tippten neue Daten ein - und kamen auf drastisch höhere Zahlen.

Teure Fortpflanzung

Teuer sind bei solchen Analysen vor allem die Tierversuche und hier die aufwändigen Fortpflanzungsexperimente: "Um zu testen, ob eine Substanz die Augen reizt, sind drei Versuchstiere pro Chemikalie nötig, während die Reproduktionsmedizin für die gleiche Substanz 1500 Ratten einsetzt", so Liebsch.

Mit gutem Grund aber will niemand auf diese Fortpflanzungsversuche verzichten, bei denen trächtigen Ratten die untersuchte Chemikalie verabreicht wird: Zwischen Oktober 1957 und November 1961 nahmen viele Schwangere das Medikament "Contergan", das sich in Tierversuchen als sehr sicher erwiesen hatte. Trächtige Ratten waren damals noch nicht im Versuchsrepertoire, der "Contergan"-Wirkstoff Thalidomid aber schädigt die Entwicklung von Embryonen. In Deutschland kamen Tausende Kinder zur Welt, deren Gliedmaßen nicht voll entwickelt waren.

90 Prozent aller REACH-Versuchstiere dürften für solche Fortpflanzungsversuche eingesetzt werden, die 70 Prozent der Kosten verschlingen, geben Hartung und Rovida an. "Genau hier versuchen wir seit einiger Zeit, die Zahl der eingesetzten Versuchstiere erheblich zu reduzieren", erklärt Liebsch. Während heute nicht nur die trächtigen Ratten untersucht werden, sondern auch die Fortpflanzung von deren Nachkommen analysiert wird, wollen Forscher und Behörden im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf diese zweite Vermehrung und damit auf die meisten Versuchstiere in Zukunft verzichten. Stattdessen soll die erste Gruppe von Rattennachkommen genauer untersucht werden.

Warten auf Zustimmung

"Bis dabei die Interessen von 30 OECD-Mitgliedsstaaten unter einen Hut gebracht sind, dauert es hoffentlich nicht zu lange", hofft Liebsch. Andernfalls würde sich der Chemikalien-Test für die REACH-Länder, die meist in der OECD sind, doch noch als unbezahlbar erweisen.