Zum Hauptinhalt springen

Sichert die EU-Verfassung die Funktionstauglichkeit der Union?

Von Manfred Scheich

Europaarchiv

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Versprechen einer Verfassung für das geeinte Europa war während der vergangenen zwei Jahre ein willkommenes Mittel, Unbehagen und Kritik an dem Zustand der Europäischen Union aufzufangen. Das Ergebnis des mit ihrer Ausarbeitung betrauten Reformkonventes liegt vor: ein "in Konsens" verabschiedeter Entwurf eines Verfassungsvertrages. Der Konsens bröckelt allerdings. Die rasch ausgebrochene und emotional geführte Diskussion zwischen den EU-Regierungen kreist um Fragen, die zweifellos legitime nationale Interessen berühren, wie z. B. die Präsenz aller Mitgliedstaaten in der EU-Kommission.

Kaum oder nicht zu hören ist aber die Frage, ob der neue Vertrag geeignet ist, der erweiterten Union eine feste, funktionstaugliche Grundlage zu geben. Und wurde der Auftrag erfüllt, die demokratische Legitimität der politischen Vorgänge zu stärken, sie für die Bürger durchschaubar zu machen und so die breite Zustimmung der Bürger zum Integrationsprojekt wieder zu gewinnen? Oder steht das Ergebnis des Reformkonventes nur in der Reihe vergangener Bemühungen, wie jener von Amsterdam und Nizza, welche wohl Schritte nach vorne brachten, die aber viel zu kurz gerieten? Die Analyse des vorliegenden Entwurfes führt zu dem Schluss, dass Letzteres auch diesmal wieder gilt.

Das Ergebnis ist ein gemischtes. Es gibt Fortschritte, wie eine verbesserte Kompetenzordnung, eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, die Etablierung eines Europäischen Außenministers, der symbolhaft für die noch zu verwirklichende gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik steht, und vor allem die Ausdehnung der supranationalen "Gemeinschaftsmethode" auf den Bereich der Inneren Sicherheit und Justiz.

Misst man aber das Ergebnis des Konventes an den inneren und äußeren Herausforderungen, denen sich die erweiterte Union gegenüber sieht, springen schwerwiegende Schwächen ins Auge. Sie sollen und dürfen nicht durch Schönreden überdeckt und verdrängt werden - dazu ist das Projekt der europäischen Integration zu wichtig.

Regierungen gestärkt

Objektiv gesehen bedarf die erweiterte Union mit ihrer wesentlich erhöhten inneren Heterogenität und dem breiter gewordenen Spektrum widersprüchlicher Interessen stärkerer supranationaler Strukturen, um ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu sichern und das Risiko der Lähmung auszuschalten. Der Verfassungsentwurf stärkt jedoch, alles in allem genommen, das Gewicht der nationalen Regierungen im Integrationsgefüge: der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs wird zum eindeutigen Machtzentrum und Führungsorgan der Union mit Richtlinienkompetenz; er wählt einen hauptamtlichen Präsidenten, der "auf seiner Ebene" die Union nach außen vertritt; es wird schwer vermeidbar sein, dass dieser um sich und damit um den Europäischen Rat einen neuen Apparat schafft, der zu einem parallelen Exekutivzentrum auf Kosten und in Rivalität zur supranationalen Kommission werden kann. Der europäische Außenminister, wenn auch in der Kommission angesiedelt, wird in seiner Aktion von den konkreten Vorgaben der Mitgliedstaaten direkt abhängig sein; man kann bereits das Wort vom "Trojanischen Pferd" der Regierungen in der an sich unabhängigen Kommission hören.

Was den Entscheidungsmodus im Ministerrat betrifft, ist es nicht gelungen, die supranationale Methode der qualifizierten Mehrheit als durchgehende Regel durchzusetzen; dies gilt jedoch als Voraussetzung, will man das Risiko der Lähmung der Entscheidungsvorgänge vermeiden. Der Entwurf sieht hier Fortschritte vor, vor allem in dem Bereich "Innere Sicherheit und Justiz". Zentrale Fragen, die für die Zukunft der Union entscheidend sind, bleiben aber der Einstimmigkeit unterworfen: so die Gestaltung der makroökonomischen Politiken, wie Fiskal- und Sozialpolitik, deren enge Koordinierung erforderlich sein wird, um dem Euro eine tragfähige Untermauerung zu geben. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, dem großen Zukunftsprojekt der Union, bleibt Einstimmigkeit der Grundsatz.

"Schwarzes Loch" Vorsitz im Rat

Als "schwarzes Loch" voller Unklarheiten bezeichnen Beobachter jenen Teil des Entwurfes, der der Präsidentschaft in den Ministerräten gewidmet ist. Die der Präsidentschaft zukommende Führungs- und Koordinationsfunktion gewinnt aber in der größeren Union erhöhte Bedeutung. Leider konnte sich der Konvent auf kein klares Modell einer Teampräsidentschaft - d. h. z. B. vier Mitgliedstaaten für zwei Jahre mit Arbeitsteilung - einigen; derart könnte der künftigen Arbeitslast entsprochen und vor allem die für das Vertrauensklima wichtige regelmäßige Präsenz auch kleinerer Mitgliedsstaaten in der Führungsfunktion gesichert werden. Es ist zu hoffen, dass dafür noch nicht aller Tage Abend ist.

Neben der Sicherung der Funktionstüchtigkeit sollte die Reform die demokratische Legitimität der Integrationsprozesse stärken und die Transparenz der Vorgänge für die Bürger sicherstellen. Den ersten Auftrag kann man im Lichte der erheblichen Ausweitung des Mitbestimmungsrechtes des Europäischen Parlamentes als weitgehend erfüllt betrachten. Das Europäische Parlament ist ein Gewinner der Reform.

Vergeblich aber sucht man nach überzeugenden Hinweisen, wonach die Klarheit und Verständlichkeit der Texte erhöht und die politischen Vorgänge für die Bürger transparenter würden. (Das öffentliche Tagen des Rates bei der Verabschiedung legislativer Akte macht die davor und dahinter liegenden Vorgänge noch nicht durchsichtig). Hier stößt man auf ein Manko, welches das Phänomen der abnehmenden Zustimmung der Bürger zu den "Brüsseler Vorgängen" berührt. Diese Zustimmung wiederum ist eine wesentliche Voraussetzung für die politische Legitimität der Integration als solcher, die nicht nur auf rechtlichen Regeln und Institutionen begründet sein kann. Im Übrigen ist es das stille Einverständnis der schwindenden Akzeptanz, welches die Regierungen von der Veranstaltung von Referenden über die EU-Verfassung zurückschrecken lässt.

Schwindende Akzeptanz

Auch wenn es das gerade noch "politisch Mögliche" sein mag, ist das Ergebnis des Reformkonventes nicht zufrieden stellend. Auch die Regierungskonferenz wird es in seinem Wesen nicht mehr verändern. Vor allem scheint die Funktionstüchtigkeit der Union der 25 oder mehr Mitgliedsstaaten nicht gesichert.

Die Wirkungen der erhöhten inneren Heterogenität der Union deuten sich bereits an. Verschärfte und neue Frontstellungen zwischen Groß und Klein, Reich und Arm, Alt und Neu, Intergouvernemental und Supranational, "Europäern" und Atlantikern zeichnen sich ab. Diese Trennlinien sind an sich nicht neu, die "kritischen Massen", die jeweils dahinter stehen, sind aber größer geworden. Das erschwert Kompromisse und Lösungen.

Bedenklich ist die akut gewordene Frontstellung Klein gegen Groß. Dies ist nicht nur auf Vormachttendenzen der Großen zurückzuführen, sondern hat auch objektive Gründe: Dem Projekt einer Gemeinsamen Außen-, vor allem aber Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die Dominanz der Großen inhärent - hier zählt Muskelkraft. Der Weg über die Liberalisierung im Binnenmarkt hinaus zur Wirtschafts- und Währungsunion führt bei einer gemeinsamen Gestaltung der Wirtschafts- und Währungspolitik zu einem ähnlichen Ergebnis, da der Löwenanteil der Wirtschaftskraft auf die Großen entfällt. Schließlich verstärkt die wachsende Zahl der Kleineren verbunden mit einer komplexeren Entscheidungsbildung die Tendenz der Großen, das Heft in die Hand zu nehmen.

Neue Frontstellungen

Die verschärften Frontstellungen in der größeren Union verbunden mit inadäquaten inneren Strukturen und Arbeitsverfahren - ob es gefällt oder nicht, die Union bedarf stärkerer supranationaler Strukturen - werden vermutlich bald eine weitere Diskussion über einen tief greifenden Wandel auslösen. Diese wird sich um Begriffe wie "harter Kern", "Flexibilität", "variable Geometrie" usw. drehen. Sie alle laufen darauf hinaus, von der Maxime der Einheitlichkeit des Integrationsraumes und der Homogenität der Integrationsprozesse abzugehen. Diese Entwicklung wird von kritischen politischen Auseinandersetzungen begleitet sein, da sie für einige mit dem Verlust von Einfluss und der Befürchtung, zu Mitgliedern zweiter Klasse zu werden, verbunden wäre. Trotzdem: Man muss damit rechnen, dass "Flexibilität", in welchen konkreten Formen auch immer, von einer vorübergehenden Ausnahme zu einem dauerhaften Bauelement der Union werden wird. Damit wäre aber nur dem so gern beschworenen Grundsatz der "Einheit in der Vielfalt" Wirklichkeit gegeben.