Von allen Protesten weltweit verzeichnet der Irak die meisten Toten. Aber wer schießt auf die Demonstranten? Diese Frage ist schwer zu beantworten - und birgt politischen Zündstoff.
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In Bagdad herrscht dicke Luft, im zweideutigen Sinne. Zum einen ziehen die jetzt einsetzenden Winternebel bis tief in die unteren Luftschichten und vermischen sich mit dem Smog aus Tränengas und brennenden Autoreifen. Zum anderen haben die schweren Kämpfe der letzten Tage mit vielen Toten und Verletzten die Stadt aufgewühlt und zugleich paralysiert. Junge Demonstranten humpeln mit dicken Streckverbänden über den Tahrir Platz. Man hört keine Schüsse mehr, dafür umso mehr Krankenwagensirenen. Die Stimmung liegt zwischen Resignation und "jetzt erst recht".
Aus Angst, in die Schusslinie der Scharfschützen zu geraten, bleiben vor allem Familien und Frauen zuhause. Das war wohl auch die Absicht der blutigen Operation, die die Regierung angeordnet hatte. Sie will den Aufstand beenden. Zum zweiten Mal seit Ausbruch der Proteste im Irak vor sechs Wochen ließ Premier Adel Abdul Mahdi auf Demonstranten schießen. Die Toten und Verletzten werden noch gezählt. Fest steht nur: Von all den Protesten und Aufständen, die es weltweit derzeit gibt, sind die im Irak am blutigsten.
Der Premier habedie Toten zu verantworten
Während die städtische Müllabfuhr die Scherben auffegt, Bagger die von den Demonstranten als Wurfgeschosse benutzten Pflastersteine wegschaufeln, bleibt der politische Scherbenhaufen, der die Proteste hervorgerufen hat, bestehen. Unstrittig ist, wer den Befehl gab, neben Tränengas auch scharfe Munition einzusetzen und somit den Tod von weitgehend friedlichen Demonstranten zu verantworten hat. Die der Uno angegliederte Hohe Kommission für Menschenrechte spricht von 316 Toten seit Beginn der Proteste Anfang Oktober und 18.000 Verletzten. Wer geschossen hat, ist jedoch unklar.
Dhia al-Saadi empfängt in seinem Büro der irakischen Rechtsanwaltskammer auf der anderen Seite des Flusses Tigris, gegenüber dem Tahrir Platz. In der Stadthälfte Kirkh liegt der Regierungsbezirk, hier befinden sich viele Ministerien sowie der Amtssitz des Premiers. Aus Kirkh wurde auf die Demonstranten am Tahrir Platz geschossen.
Der Vorsitzende der Vereinigung irakischer Juristen ist es gewohnt, dass Besucher verspätet bei ihm eintreffen, wenn sie von der anderen Seite des Tigris kommen: Von den vier Tigrisbrücken, die die Protestbewegung noch vor wenigen Tagen besetzt hielt, haben Einsatzkräfte mittlerweile drei geräumt, aber noch nicht für den Verkehr frei gegeben. Um von Rusafa nach Kirkh zu gelangen, muss man einen Riesenumweg fahren.
Saadi ist ein kleiner, besonnener Mann, der nachdenkt, bevor er antwortet. Er legt wert darauf zu betonen, dass die Anwaltskammer eine unabhängige Organisation ist, die seit 1933 besteht und dass er selbst als unabhängiger Kandidat ins Amt gewählt wurde. Das sei nicht einfach gewesen, da Politiker und Religiöse im Irak überall mitmischen wollten.
Soldaten solidarisieren sich mit den Demonstranten
"Den Befehl für beide Operationen gegen die Demonstranten gab der Oberbefehlshaber der Sicherheitskräfte, der Premierminister", sagt der Juristenchef. Adel Abdul Mahdi habe die Toten und Verletzten zu verantworten. Bereits Mitte Oktober gab es in Bagdad und in den südlichen Provinzen, wo ebenfalls Proteste toben, ein blutiges Eingreifen der Sicherheitskräfte mit über 100 Toten. Die Demonstrationen ebbten ein paar Wochen ab, um dann umso heftiger wieder anzuschwellen. In Bagdad zeigt sich das an der Ausdehnung des Protestcamps: Während sich die Zelte Anfang Oktober lediglich auf den Tahrir Platz beschränkten, gehen sie jetzt in die Breite. Saadi ist sich sicher, dass auch diese zweite Operation nicht die letzte sein wird. Doch wer schießt auf die Leute?
Im Protestlager sind viele Soldaten der Armee, auch Polizisten solidarisieren sich mit den Demonstranten. Man sieht sie mit irakischer Fahne durch die Stadt fahren - eine eindeutige Sympathiebekundung. Das sei auch der Anwaltskammer zu verdanken, meint ihr Vorsitzender. "Die Juristen unserer Vereinigung haben sich ebenfalls auf die Seite der Protestbewegung gestellt", sagt Saadi, "wir haben zwei Stände am Tahrir, kommen mit den Leuten ins Gespräch. Eine Gruppe von Anwälten kümmert sich um verhaftete Demonstranten". Stolz erzählt er, dass sie bereits mehr als 100 Menschen wieder freibekommen haben. Mit Überzeugungsarbeit wollen sie Polizisten und Soldaten dazu bringen, nicht gegen Demonstranten vorzugehen, sich nicht zum Instrument der Regierung machen zu lassen.
Schüsse gegen Schläfen und Brust: "Absicht, zu töten"
Artikel neun der 2005 in Kraft getretenen irakischen Verfassung verbietet Einsätze der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung, für deren Schutz sie verantwortlich sind. Wörtlich heißt es: "Irakische Armee und Polizei dürfen nicht als Instrument gegen das irakische Volk eingesetzt werden." Doch genau das geschieht. "Die irakische Regierung verletzt die Verfassung", sagt Dhia al-Saadi.
"Destour", das arabische Wort für Verfassung, fällt dieser Tage oft am Tahrir Platz. Die Demonstranten fordern ihr Verfassungsrecht ein. Überhaupt geht es bei diesen Protesten auch um Bürger- und Menschenrechte. "Wir wollen, dass sich die Politiker an unsere Verfassung halten", fordert eine Gruppe Lehrerinnen, die sich am Tahrir versammelt hat und ein Pamphlet hochhält. Es geht auch um das Verfassungsrecht auf Bildung, das die Frauen nicht ausreichend verwirklicht sehen. Es gibt T-Shirts zu kaufen, auf denen steht: "Ich will meine Rechte!"
Wer auf sie schießt, wissen auch die Demonstranten am Tahrir Platz nicht. Einige der Schützen trugen irakische Armeeuniformen, andere seien in Jeans und T-Shirt, wieder andere ganz in schwarz gekleidet. Die Schüsse würden gezielt abgegeben, sagt Anwaltskammerpräsident al-Saadi. Die harten Tränengasbomben würden gegen Schläfen und Brust der Demonstranten abgefeuert: "Sie haben die Absicht zu töten." Deshalb deute alles daraufhin, dass hier die Spezialeinheit, die sogenannte "Goldene Division" am Werk sei, die im Anti-Terror-Kampf ausgebildet ist und bei der Befreiung Mossuls aus den Klauen des Islamischen Staats (IS) an vorderster Front war. Deren Scharfschützen sind berüchtigt.
Die Demonstranten hingegen sprechen von der Präsidentengarde, die eigentlich dem Premier unterstellt ist. Das sind Teile der vom Iran ausgebildeten und befehligten Schiitenmilizen, die im Rahmen der Volksmobilisierungskräfte (Arabisch Hashd al-Shaabi) nach dem vermeintlichen Sieg über den IS in die irakische Sicherheitsstruktur integriert wurden. Mit viel Skepsis betreffend ihre Loyalität stellte sie Abdul Mahdis Vorgänger Haider al-Abadi unter seinen Befehl. Es gab aber von Anfang an erhebliche Zweifel, welchem Herrn diese Einheit eigentlich dient.
Einfluss des Iran undder USA spielt eine Rolle
"Wir sollten die Konfrontation zwischen dem Iran und den USA bei diesem Konflikt nicht unterschätzen", meint Dhia al-Saadi. Bedeuten die Demonstrationen also einen Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Erzfeinden? Soweit wolle er nicht gehen, sagt der Jurist vorsichtig. Einen Nebeneffekt hätten sie aber zweifelsohne. Teheran jedenfalls behaupte, dass die Proteste von den USA und Israel gesteuert würden und sieht die Reaktion der irakischen Regierung als Anti-Terror-Kampf an. "Damit rechtfertigen sie die Schüsse und die Toten."
Saadi und seine Kollegen befürchten, dass die Situation weiter eskaliert und sich zu einem Militärputsch ausweiten könnte - Beispiel Jemen. Dort liefern sich von Iran gestützte Huthi-Milizen seit 2015 einen blutigen Kampf mit einer Allianz aus Saudi-Arabien, den Emiraten und den USA. Nutznießer dieser verheerenden Situation sind extremistische Terrorgruppen wie Al Kaida oder der IS. "Das wäre der absolute Untergang für den Irak!"
Buchtipp~