Terror und Angst vor den Sowjets als Antriebsmotor für Unterstützung Hitlers.
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"Wiener Zeitung":
In Ihrem neuen Buch "Das Ende" beschreiben Sie den Untergang des NS-Regimes und schildern, wie wenig Widerstand es aus der Zivilbevölkerung gegeben hat. Was hat die Menschen davon abgehalten, sich stärker für ihre Freiheit und ihr Überleben einzusetzen?Ian Kershaw: Terror. Die Einschüchterung, ganz besonders in der letzten Kriegsphase, schloss revolutionäre Erscheinungen von unten aus und führte, mit wenigen Ausnahmen, zu Passivität und Fatalismus.
Sie sprechen in Ihrem Buch auch vom "Faktor Hitler". Woraus setzt sich dieser zusammen? Wie hat Hitler seinen großen Machteinfluss erhalten können, obwohl außen alles zusammengebrochen ist?
Dieser Faktor bestand zum Teil natürlich aus seinem Charakter, in der letzten Phase auch aus Hitlers Unnachgiebigkeit und seinem Starrsinn. Aber noch mehr wurde der "Faktor Hitler" durch die zersplitterten Herrschaftsstrukturen definiert, wie ich anhand von vielen Beispielen zeige. Diese schlossen kollektives Handeln aus und führten zu gegenseitigem Misstrauen und zu großen Rivalitäten in den Hierarchiestufen unterhalb Hitlers.
Warum war die Machtelite bis zum Schluss bereit, den Befehlen Hitlers zu folgen, warum gab es unter seiner Gefolgschaft so wenig Widerstand?
Seine Paladine und die etwa 40 Gauleiter der NSDAP hatten die Brücken hinter sich abgebrochen. Sie wussten, dass ihre Macht von Hitler abhing und dass sie ohne ihn keine Zukunft hatten. Die Wehrmachtführung kämpfte um die Landesverteidigung: Es ging darum, die Eroberung und Besetzung durch den Feind, insbesondere durch die Sowjets, zu verhindern. Im Bewusstsein deutscher Gräueltaten - vor allem im Osten - hatte die Wehrmachtführung auch Angst vor der Rache des Feindes im Fall einer Niederlage.
War die Herrschaft ausschließlich auf Hitler ausgerichtet oder hatte er Helfer, die ähnlich fanatisch den Glauben vom "Endsieg" aufrechterhalten haben?
Es war eine höchst personalisierte Herrschaftsform. Aber natürlich fand Hitler bis zum Schluss bei den Funktionseliten, unter den regionalen und lokalen Unterführern der Partei sowie in der Wehrmacht - sowohl bei den Generälen als auch bei einem Teil der Landser - teilweise überzeugte, häufig sogar fanatisierte Unterstützung.
Was ging in Hitlers Paladinen, wie Sie sagen, vor? Haben sie den Krieg überlebt und wie haben sie die Ereignisse 1944/45 retrospektiv betrachtet?
Wenige waren dazu bereit, sich auf Hitlers Scheiterhaufen zu werfen. Manche führenden Nationalsozialisten wurden in Nürnberg (Gemeint sind die Prozesse, die 1945/46 vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die Hauptkriegsverbrecher geführt wurden, Anm.) verurteilt. Einige Gauleiter - aber nur eine kleine Minderheit - begingen bei Kriegsende Selbstmord. Die meisten NS-Funktionäre kamen ziemlich glimpflich davon. Die überlebenden Generäle versuchten später, in relativ apologetischen Memoiren ihr Verhalten zu rechtfertigen.
Konnten Sie zumindest innerhalb der Wehrmacht ein Ansteigen der Desertionsraten feststellen? Gab es einen Bereich, in dem man früher gemerkt hat, dass das Dritte Reich dem Ende zu geht?
"Fahnenflucht" bedeutete, falls man geschnappt wurde, die sichere Todesstrafe. Etwa 20.000 deutsche Soldaten wurden im Zweiten Weltkrieg hingerichtet, die meisten davon in den letzten Monaten. Im gesamten Ersten Weltkrieg betrug die Zahl demgegenüber 48. Man vermutet, dass die Zahl der "Versprengten" - viele davon waren in der Tat Deserteure - etwa eine halbe Million Soldaten in der letzten Phase erreichte. Die meisten Soldaten kämpften dennoch bis zum Schluss.
Welche Auswirkungen hatte das Attentat vom 20. Juli 1944? Hat es den Untergang beschleunigt oder verlangsamt?
Es hat den Untergang sicherlich verlangsamt. Das Regime wurde vorübergehend gestärkt, auch innerhalb der Wehrmacht. Ultra-Loyalisten besetzten alle Stellen. Der interne Terror stieg. Die Chancen, Hitler von innen umzustürzen, verschwanden. Ein Ausweg aus der Katastrophe war daher blockiert.
Wann ist Hitler selbst klar geworden, dass der "Endsieg" eine Illusion ist?
Der 1941 oder 1942 erhoffte "Endsieg" erwies sich spätestens nach Stalingrad als eine Illusion, auch für Hitler. Aber er hoffte, sicherlich bis zum Scheitern der Ardennen-Offensive im Dezember 1944, dass Deutschland schließlich doch siegen würde. Ab Dezember 1944, noch mehr nach dem großen sowjetischen Durchbruch im Jänner 1945, muss es selbst Hitler klar geworden sein, dass eine totale Niederlage unabwendbar sein wird.
Österreich ist, unterstützt durch die Moskauer Deklaration, lange dem Mythos vom ersten Opfer nachgelaufen - gibt es Hinweise darauf, dass sich das Verhalten der Personen im "Altreich" von jenem der "Ostmärker" unterschieden hat?
Soweit ich weiß, nein. Soldaten und Generäle haben sich nach meiner Kenntnis in beiden Ländern ähnlich verhalten. Allerdings deuten einige interne Lageberichte der NS-Machthaber darauf hin, dass die Stimmung gegen das Regime in Wien, vor allem bei der Arbeiterschaft, in den letzten Kriegsmonaten besonders negativ war.
Wir haben auch jetzt eine Wirtschafts- und Finanzkrise, die Situation ist nicht so schlimm wie jene 1933, aber dieser Vergleich wird immer wieder bemüht. Welche Chancen hätte ein "charismatischer Führer", wie Hitler in der Forschung oft bezeichnet wird, in einer modernen Demokratie?
Zur Person
Sir Ian Kershaw gilt nicht nur in Historiker-Kreisen als einer der profundesten Kenner des Nationalsozialismus. Bekannt wurde der 1943 geborene Brite Ende der 1990er vor allem durch seine zweibändige monumentale Hitler-Biografie. 2002 wurde Kershaw von der Queen zum Ritter geschlagen, bis zu seiner Emeritierung war er Professor an der Universität Sheffield. In seinem neuen Buch "Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45" (Deutsche Verlags-Anstalt, 704 Seiten, 30,90 Euro) beschreibt Kershaw den Untergang des Dritten Reichs.
Ein "charismatischer Führer" hätte in der gegenwärtigen Situation sicherlich keine Chancen. Wenn die jetzige Wirtschaftskrise zu einem Zusammenbruch des europäischen Staatensystems führen sollte, dann könnte es natürlich sehr gefährliche politische Konsequenzen haben.