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"Sie malen Schreckgespenster an die Wand"

Von Eva Zelechowski und Walter Hämmerle

Politik
Sepp Schellhorn (Neos) und Michel Reimon (Grüne) im Doppelinterview. 
© Moritz Ziegler

Neos-Mandatar Sepp Schellhorn im Streitgespräch mit dem EU-Abgeordneten Michel Reimon von den Grünen.


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Wien. Seit Juni 2013 laufen die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU, kurz TTIP. Ziel ist dabei der Abbau von Handelshemmnissen, um so für mehr Wachstum zu sorgen. Bei einem Abschluss würde die weltgrößte Freihandelszone entstehen.

"ihr einziges Ziel ist der Abbruch der Verhandlungen. Warum reden wir nicht über die Standards, die in den USA höher sind als in Europa?", fragt Schellhorn (l.). 
© Moritz Ziegler/Wiener Zeitung

Allerdings ist TTIP heftig umstritten, der Widerstand auf beiden Seiten des Atlantiks - wenngleich aus unterschiedlichen Motiven - massiv. Die "Wiener Zeitung" lud Michel Reimon, wortmächtiger Kritiker, und Sepp Schellhorn, überzeugter Befürworter, zum Streitgespräch.

"Wiener Zeitung": Herr Reimon, Sie kämpfen gegen das transatlantische Freihandelsabkommen. Trotzdem: Gibt es gar keinen Vorteil, sollte TTIP in Kraft treten?

Michel Reimon: Nein, TTIP kann kein Vorteil sein, weil es einen klaren Verhandlungsauftrag von den 28 EU-Regierungen an die Kommission gibt - und dieses Verhandlungsmandat ist grundsätzlich schlecht. Ich möchte ein Fairtrade-Abkommen, eine faire Regulierung des internationalen Handels, und TTIP ist das exakte Gegenteil von all dem.

Sepp Schellhorn: Es kommt darauf an, was man daraus macht. Die Grünen fordern den Abbruch der Verhandlungen. Für mich ist das seltsam, weil ja noch niemand das Endergebnis der Verhandlungen kennen kann, das dann erst noch im Parlament behandelt und abgestimmt werden muss. Sie, Herr Reimon, wollen etwas abbrechen, das noch nicht gar zu Ende verhandelt ist.

Reimon: Das ist falsch. Ich kenne das Mandat, das die EU-Kommission für die Verhandlungen mit den USA hat. Auch die Neos werden keinem Gesetzestext im Parlament zustimmen, der in eine Richtung geht, die von den Neos abgelehnt wird. So ist das auch bei TTIP. Oder wollen Sie das Ölexportverbot der USA aufheben und Fracking auch in Europa zulassen - ja oder nein, Herr Schellhorn?

Schellhorn: Das Verhandlungsmandat liegt bei der Kommission, nicht bei mir. Ich will das Ergebnis abwarten und dann darüber im Parlament beraten.

Reimon: Die Kommission hat auch den Auftrag, das per Gesetz lokal organisierte US-Beschaffungswesen aufzubrechen und für EU-Unternehmen zu öffnen. Soll das die Kommission verhandeln?

Schellhorn: Sie malen Schreckgespenste an die Wand.

Reimon: Nein, das ist das Verhandlungsmandat.

Schellhorn: Natürlich soll das verhandelt werden. Warum auch nicht?

Reimon: Weil ich dagegen bin, das US-Beschaffungswesen aufzubrechen, und dafür, dass wir auch in Europa ein solch lokales Beschaffungswesen schaffen.

Was ist schlecht daran, dass sich europäische Firmen an öffentlichen Ausschreibungen in den USA beteiligen können sollen? Im Umkehrschluss müssten dann ja auch bei österreichischen Ausschreibungen nur österreichische Anbieter zum Zug kommen.

Reimon: So habe ich das nicht gesagt. Ich möchte, dass wir auch im EU-Beschaffungssystem lokale Anbieter besser berücksichtigen, als wir es jetzt tun.

Das heißt?

Reimon: Etwa Beschaffungen auf Grundlage eines Punktesystems: Öffentliche Institutionen sollen, wenn sie Angebote bewerten, lokaler Beschaffung einen Vorteil gewähren, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Region zu halten. Das ist nach dem derzeit gültigen Bestbieterprinzip nur schwer möglich. Das ist aber bei TTIP nicht nur kein Thema, sondern die EU fordert genau das Gegenteil.

Schellhorn: Ihr einziges Ziel ist der Abbruch der Verhandlungen. Warum reden wir nicht über die Standards, die in den USA höher sind als in Europa? Nehmen wir das heikle Thema Antibiotika im Fleisch. Nicht einmal das deutsche Ur-Gestein der Grünen, Jürgen Trittin, traut es sich nach eigenen Aussagen zu zu entscheiden, was besser ist: lebenden Schlachttieren Antibiotika zu verabreichen oder das Fleisch dann mit Chlor zu behandeln. Hier zu gemeinsamen Standards zu kommen, ist richtig und wichtig - und das ist Teil der Verhandlungen.

Reimon: Das ist inhaltlich falsch. Gegenstand der TTIP-Verhandlungen sind nicht gemeinsame Standards zwischen den USA und Europa, sondern der gegenseitige Marktzugang: US-Produkte nach US-Standards nach Europa, EU-Produkte nach EU-Standards in die USA. Darum geht’s. Die USA haben bei Banken und Finanzprodukten nach der Pleite von Lehman Brothers 2008 höhere Standards durchgesetzt, als wir das in Europa erreicht haben . . .

Schellhorn: Und wären diese höheren Standards jetzt gut für Europa oder nicht?

Reimon: Das wäre für Europa sogar sehr gut, nur haben wir im Europaparlament dafür keine Mehrheit zustande gebracht - nicht zuletzt, weil Ihre Kollegen von den Liberalen das anders sehen. Würde der Verhandlungsauftrag an die Kommission lauten "Standards anheben", dann würde auch ich sagen: interessant!

Wäre TTIP dann ein Erfolg für Sie, Herr Reimon, wenn sich die USA und Europa auf die wechselseitige Übernahme des jeweils höheren Standards einigen könnten?

Reimon: Das würde passen, aber das wird nicht verhandelt.

In den Medien spielt die Sorge um die Nahrungsmittelsicherheit eine zentrale Rolle, quasi das Match Bio- gegen Hormonfleisch.

Schellhorn: Die Grünen behaupten, dass als Folge von TTIP das Bio-Huhn aus den Regalen verschwindet . . .

© M. Hirsch
© M. Hirsch

Reimon: Nein, es würde nicht verschwinden, aber in einem Ausmaß verdrängt, das zum Problem werden könnte.

Schellhorn: Das glaube ich nicht, es würde zu einer Spezialisierung kommen, die zu noch mehr Bio-Produkten in noch mehr Bio-Regalen führen wird.

Reimon: Wir haben hier unterschiedliche Folgen, die politisch unterschiedlich zu bewerten sind. Das Problem am Chlorhuhn ist nicht das Chlor. Ich springe jeden Sommer ins gechlorte Wasser im Bad und danach unter die Dusche. Das Problem sind die niedrigeren Tierhaltungsstandards in US-Fabriken. Es ist ein sauberes Huhn, aber die Produktionsbedingungen führen dazu, dass es im Gegensatz zum europäischen Huhn desinfiziert werden muss. Durch die Größe der Fabriken liegen die Produktionsbedingungen rein preislich weit unter jenen in Europa.

Schellhorn: Ich halte die Bürger für mündig genug, beim Einkauf die richtige Entscheidungen zu treffen. Sie wollen die Menschen bevormunden.

Reimon: Verzeihen Sie, aber das ist Kampfrhetorik. Mit diesem Argument können Sie jede Konsumentenschutzrichtlinie aushebeln. Ich möchte als Konsument nicht bei jeder Kaufentscheidung die Produktionsbedingungen dahinter erforschen müssen. Ich will mir ohne Eigenverantwortung eine Wurstsemmel kaufen können und dabei die Sicherheit haben, dass die Ware sauber produziert wurde.

Schellhorn: Unschöne Haltungsmethoden werden auch in Europa aufgedeckt, denken Sie nur an den Gammelfleisch-Skandal. Sie malen Schreckensgespenster an die Wand.

Hinter der Debatte um Chlorhühner und Finanzregeln steht die sehr viel grundsätzlichere Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern eines Freihandels mit einheitlichen Standards. Europas Anteil an der Weltbevölkerung beträgt nur 7 Prozent und unser Beitrag zum globalen BIP sinkt - in den letzten Jahren von 21 Prozent auf 16 Prozent. Wie soll das europäische Wohlfahrtstaatsmodell ohne liberalen Welthandel nachhaltig finanziert werden?

Reimon: Es ist ein Trugschluss, dass Liberalisierung im Handel zu Wohlstandsgewinn führt. Natürlich bewerte ich Handel positiv und bin für intelligente Handelsabkommen, um Sozial- und Umweltstandards nach oben zu schrauben. Dafür gibt es auch Modelle. Doch das Verschwinden der europäischen Textilindustrie in den letzten 30 Jahren hat nicht zu mehr Wohlstand geführt, weder bei den burgenländischen Arbeitnehmern, die ihren Job verloren haben, noch in Bangladesch, wo 2013 mehr als tausend NäherInnen beim Einsturz einer Fabrik starben. Europa kann die gestaltende Kraft auf den globalen Märkten sein, weil wir - gemessen an Einwohnerzahl und Kaufkraft - der interessanteste Markt sind. Etwa indem wir an Importe Bedingungen knüpfen wie Kündigungsschutz bei Schwangerschaft, Maximalarbeitszeiten, Mindestlöhne, Gewerkschaftsrecht und Rechtsstaatlichkeit. Bei Nichteinhaltung sollte es Strafzölle in der Höhe von ein paar Prozent geben. Das Ziel ist dabei nicht, Geld zu verdienen, sondern die Zölle so anzusetzen, dass Bangladesch eher daran interessiert ist, den Kündigungsschutz einzuführen. Ich finde es sehr interessant, dass Freihandel und Investitionsschutz vermengt wird, weil dieser Protektionismus Unternehmen dient und nicht Staaten. Was Adam Smith zum Wettbewerb der Standorte sagte, ist mit dem Investitionsschutz gescheitert.

Schellhorn: Sie richten sich Ihre kleine Welt so, wie sie Ihnen gefällt. TTIP und das Verhandlungsmandat ist eine Chance für Europa und die USA, schließlich laufen parallel die transpazifischen Verhandlungen zwischen USA, Japan, Südkorea und Indonesien. Die Gefahr ist, dass dieser Markt stärker wird. Sie, Herr Reimon, sind Aktivist, ich bin Unternehmer. Zwei Drittel der KMU in Österreich leben vom Export. Es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen und Firmen mitzuziehen, die mit ihren Produkten auf den internationalen Märkten reüssieren können. Ein Beispiel: Ein europäischer Fritteusehersteller muss 2000 Euro investieren, nur um in den USA seine Fritteusen verkaufen zu können. Das sind Hemmnisse, die abseits von Hormon- und Chlorfleisch abgeschafft werden sollten.

Reimon: Ich habe nichts gegen gemeinsame Standards mit den USA, man kann all diese Faktoren andenken und überlegen, welche Branchen wie zu stärken sind. Aber man muss dies in parlamentarische Prozesse einbinden und diskutieren, einen Binnenmarkt zu schaffen. Die EU ist ein Binnenmarkt mit 28 Staaten, kein Freihandelszone.

Schellhorn: Sie meinen also, Europa soll sich abschotten?

Reimon: Nein, wir sollten einen Binnenmarkt und Mechanismen mit den USA schaffen, um gemeinsame Standards auszuarbeiten mit transparenter parlamentarischer Beteiligung und nicht die gegenseitige Anerkennung der Standards, die - wie es im Mandat steht - ein Unterlaufen der Standards sind.

Schellhorn: Aber die Welt und Europa entwickelt sich weiter. Ihre Haltung ist Arbeitsplatzvernichtung pur.

Womöglich ist die Debatte in Europa über TTIP ohnehin vergeudete Energie, weil in den USA immer mehr Stimmen - von Trump bis hin Sanders - eine Abkehr vom Freihandel und die Abschottung des eigenen Heimatmarkts fordern.

Schellhorn: Das würde dann ja in die Karten des Herrn Reimon spielen: Abschottung.

Reimon: Herr Schellhorn, Sie gebärden sich wie ein religiöser Fundamentalist. Wer nicht 100-prozentig für Freihandel ist, ist automatisch gegen jeden Handel. Ja, ich bin für den Abbruch der Verhandlung, aber das heißt nicht, dass ich für eine Abschottung bin. Sie argumentieren betriebswirtschaftlich bei einem volkswirtschaftlichen Abkommen, das geht nicht zusammen.

Welche Folgen hätte ein Scheitern von TTIP für Europa?

Schellhorn: Es wäre auf jeden Fall ein fataler Fehler, den auch unsere Regierung mitzuverantworten hätte. Und es wäre fatal für die nächste Generation, wenn wir uns derart abschotten.

Reimon: Wir handeln seit Jahrzehnten mit den USA. Werden die Verhandlungen abgebrochen, ist es damit ja nicht vorbei. Es wäre keine Abschottung.

Schellhorn: Aber es wäre die Folge. Wenn ich mit einer Seite keinen Deal mache, dann eben mit der anderen Seite.

Die Speerspitze im Kampf gegen TTIP sind NGOs und Boulevardmedien. Sie beide sind Parlamentarier. Beschleicht Sie angesichts dieser Konstellation nicht die Befürchtung, dass wichtige Themen in Zukunft nur noch am Rande in den Parlamenten verhandelt und entschieden werden?

Schellhorn: Tatsache ist: Es gibt in Österreich eine enorm starke Anti-TTIP-Lobby. Das ist o.k., ich finde es nur traurig, dass es keine Pro-TTIP-Lobby gibt.

Warum? Industrie und Wirtschaftskammer melden sich bei anderen Themen lautstark zu Wort.

Schellhorn: Weil die Medienlandschaft in Österreich so aufgebaut ist, wie sie eben ist. Und viele Politiker und Entscheider haben nicht den Mut, das offen anzusprechen. Der Boulevard treibt die Regierung vor sich her - und die Schwäche der Koalition hilft dabei auch noch mit.

Reimon: Was die Kritik am Aktionismus der Aktivisten angeht, muss man schon sagen, dass das Verhandlungsmandat zunächst geheim war und erst unser Aktivismus dazu führte, dass es öffentlich wurde. Wir organisieren den Widerstand jetzt, weil wir auf Grundlage dieses Mandats überhaupt kein Abkommen wollen. Das ist ein völlig legitimer politischer Prozess. Etwas anderes ist nicht passiert. Grundsätzlich ist es nun einmal so, dass durch die neuen Kommunikationsmethoden im Netz die Möglichkeiten für die Bürger dramatisch gestiegen ist. Das halte ich für eine sehr positive Entwicklung. Natürlich führt dies dazu, dass wir als Politiker umdenken müssen.

Wie wird das Ringen um TTIP am Ende ausgehen?

Reimon: Ich glaube, wir schaffen den Abbruch, aber sicher bin ich mir nicht.

Schellhorn: Ich glaube auch, dass TTIP scheitern wird, aber ich finde diese Haltung erbärmlich: Nur auf den Abbruch aus sein, statt zu überlegen, wo hat man Gemeinsamkeiten, wo könnte man nachgeben. Und dann darüber zu diskutieren in der EU-Kommission abzustimmen.

Das Abkommen zwischen der EU und Kanada, Ceta, ist fertig ausverhandelt und liegt zur Ratifizierung bereit. Soll es in Kraft treten?

Schellhorn: Ja, dafür spreche ich mich klar aus, einfach, weil es für Europa wichtig ist. Die Standards in der Lebensmittelproduktion werden jedenfalls nicht gesenkt, der mündige Bürger kann selbst entscheiden, welches Fleisch er kauft.

Reimon: Ich bin eindeutig dagegen. Ceta ist TTIP Light. US-Firmen hätten beim Investitionsschutz die Möglichkeit, über eine kanadische Tochterfirma zu gehen - TTIP bräuchte es dann gar nicht mehr. Zwar ist Ceta nicht ganz so weitreichend, aber immer noch weitreichend genug. Gerade im Finanzmarkt wird die Regulierung geschwächt. Bei einem Nein von Ceta wird auch TTIP scheitern. Ceta ist TTIP. Punkt.

Michel Reimon ist seit 2014 grüner Abgeordneter im EU-Parlament. Er widmet sich globalisierungskritischen und netzpolitischen Themen und kritisiert die österreichische sowie EU-Asylpolitik scharf. Der Burgenländer (45) schrieb u. a. mit Robert Misik das Buch "Supermarkt Europa" zum Ausverkauf der Demokratie. Seit zwei Jahren hält er TTIP-Vorträge und hat maßgeblich dazu beigetragen, das Thema in Österreich auf die Agenda zu bringen.

Sepp Schellhorn ist Gastronom und seit 2014 Abgeordneter zum österreichischen Nationalrat für die Neos. Er engagiert sich auch im Kulturbereich, insbesondere in der Literatur. Der Salzburger (49) war zunächst politisch für den Wirtschaftsbund und die ÖVP aktiv, ehe er 2013 zu den Neos wechselte. Er ist einer der wenigen Politiker, die öffentlich für TTIP Partei ergreifen und vorrangig die Chancen im Auge hat.

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