Anne Roquet tritt bei der Parlamentswahl in Nordfrankreich für die Partei "En Marche" an. Die vom industriellen Niedergang gezeichnete Region wird von Konkurrentin Marine Le Pen als Hauptquartier beansprucht.
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Hénin-Beaumont. Entschlossenen Schrittes geht Anne Roquet durch die von Backsteinhäusern gesäumten Gassen an den Marktständen von Courrières entlang. Sobald ihr jemand entgegenkommt, bleibt sie stehen, drückt Verkäufern und Kunden ein Flugblatt in die Hand und sagt: "Bonjour, ich wäre gerne Ihre zukünftige Abgeordnete."
Das 10.000-Einwohnerstädtchen Courrières liegt in Nordfrankreich, im Wahlkreis der Stadt Hénin-Beaumont nahe der belgischen Grenze. Hier geht Roquet bei der Parlamentswahl kommenden Sonntag für Emmanuel Macrons Bewegung "La République En Marche" als eine von 515 Kandidaten in die zweite Runde. Eine überragende Mehrheit in der Nationalversammlung ist Frankreichs neuem Präsidenten bereits sicher. Im ersten Durchgang erzielte seine Bewegung im Verbund mit der Mitte-Partei Modem 32,2 Prozent der Stimmen. Umfragen prognostizieren ihm 400 bis 455 der 577 Abgeordnetensitze.
Hochburg des Front National
Doch während En Marche auf nationaler Ebene nichts mehr zu befürchten hat, ist die Schlacht im Wahlkreis von Hénin-Beaumont noch nicht geschlagen. Sie könnte sich für die Zentrumspartei als äußerst schwierig erweisen.
Denn Roquet trifft in der Stichwahl auf die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen. Deren Partei musste am vergangenen Sonntag mit 13,9 Prozent der Stimmen zwar eine schwere Niederlage einstecken, Le Pens Chancen in Hénin-Beaumont stehen aber nach wie vor gut. Sie hat das von Arbeitslosigkeit und Armut gebeutelte Nordfrankreich schon vor Jahren zu ihrem Hauptquartier erklärt. "Le Pen ist andauernd hier, besucht die Märkte und macht Selfies mit den Leuten", kommentiert eine ältere Frau, die vor einem Backstand auf ihre Waffeln wartet. An mehreren Straßenecken sieht man die Rechtspopulistin mit ihrem Stellvertreter, Hénin-Beaumonts Bürgermeister Steeve Briois, von Wahlplakaten strahlen. Darunter der Slogan: "Immer da, um euch zu verteidigen".
In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl erhielt Le Pen in Hénin-Beaumont 61,6 Prozent der Stimmen. Vergangenen Sonntag landete sie in der ersten Wahlrunde mit 46 Prozent klar auf Platz eins. Für Roquet stimmten 16,4 Prozent. "Am Anfang hielten wir das Ganze für eine unmögliche Mission", gibt ihr Stellvertreter Geoffrey Gorillot zu. Mittlerweile ist das Team zuversichtlicher. "Ich weiß, dass es kein einfaches Unterfangen ist, aber ich denke, ich kann gewinnen", sagt die Kandidatin.
Seit Tagen ist die 45-Jährige mit ihrem Team rund um die Uhr auf der Straße, klappert Märkte und Wohnsiedlungen ab, organisiert "Apéros" und Debatten. Die Händler in Courrières beäugen das neue Gesicht mit einer Mischung aus Interesse und auch Belustigung.
Geschlossene Minen
"Endlich will jemand Le Pen die Stirn bieten", freut sich eine ältere Frau. Ihre Begleiterin ist etwas skeptischer. "Ich bin von En Marche zwar nicht überzeugt, aber bereit, mich gegen den Front National zusammenzuschließen." "Anne kommt von hier und kennt unsere Anliegen. Meine Stimme hat sie", sagt der Betreiber eines Grillstandes.
Roquet ist in Nordfrankreich aufgewachsen und lebt in Leforest, der Nachbargemeinde von Hénin-Beaumont. Sie hat die Deindustrialisierung miterlebt, die Schließung der Kohleminen, die Freunderlwirtschaft und Korruption der Sozialisten, die früher Nordfrankreichs stärkste Partei waren, und die darauf folgende Eroberung der Wählerschaft durch die extreme Rechte. "Seit Jahren steht die Region still. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Ich kann es ihnen nicht verdenken, dass sie sich dem Front National zuwenden. Aber man muss ihnen eine Alternative bieten", sagt sie.
Selbst engagiert sich die 45-Jährige erst seit Kurzem in der Politik. Die frühere Bankangestellte zählt zu Macrons 273 Kandidaten aus der Zivilgesellschaft. Die Hälfte seiner Abgeordneten sollen noch kein politisches Mandat ausgeübt haben; das war ein Wahlversprechen des Präsidenten. Noch vor einem Jahr konnte Roquet sich mit keiner politischen Partei anfreunden. "Sowohl die rechten als auch die linken Regierungen haben mich enttäuscht", sagt sie. In Macron sah die Polit-Novizin eine neue Chance für ihr Land. Im September 2016 trat sie der Bewegung bei. Als "La République En Marche" Kandidaten für die Parlamentswahl suchte, stand für Roquet fest: "Ich will meine Heimat gegen den Front National verteidigen."
Geringe Wahlbeteiligung
Derzeit konzentriert sich die Kandidatin besonders auf Viertel, in denen die Rechtspopulisten im ersten Durchgang stark waren. Auch dort, wo viele Wähler den Gang zur Urne verweigert haben, geht sie auf Stimmenfang. "Ich wähle nicht", antwortet ein junger Mann, als sie ihm ein Flugblatt mitgeben will. Bei der Präsidentschaftswahl hat er für Le Pen gestimmt. "Aber jetzt gibt es sowieso nichts mehr zu gewinnen", meint er. "Die Parlamentswahl interessiert mich wenig", pflichtet eine stärker gebaute Frau bei. "Wir hatten im Mai die Chance auf einen echten Wechsel und haben sie nicht genutzt", bedauert sie.
Landesweit war die Wahlbeteiligung vergangenen Sonntag mit 48,7 Prozent die niedrigste bei einer Parlamentswahl seit der Gründung der Fünften Republik 1958. Im Wahlkreis von Hénin-Beaumont lag die Beteiligung mit 46,7 Prozent noch unter dem Landesdurchschnitt. "Viel mehr als Le Pen fürchte ich in der Stichwahl das Fernbleiben der Wähler", gibt Roquet zu. Diese Sorge dürfte sie mit der Vorsitzenden des Front National gemeinsam haben. Marine Le Pen hatte nach Bekanntwerden der Resultate vergangenen Sonntag sogleich zur Mobilisierung der Franzosen aufgerufen.