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"Sie müssen mich hier rauslassen"

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

20.000 warten auf Ausreise nach Ägypten.


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Rafah. Am Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten herrscht Totenstille. Nur zwei bärtige Beamte der islamistischen Hamas sind zu sehen. Das Maschinengewehr haben sie zwischen die Beine geklemmt, während sie im Schatten die ungewohnte Ruhe genießen. Immerhin kamen hier im Juli noch rund 1000 Menschen am Tag vorbei. Unter ihnen Studenten, Patienten mit Operationsterminen im Ausland, Reisende und Geschäftsleute. Sie alle waren am Weg aus dem Gazastreifen nach Ägypten oder sind von dort zurückgekommen.

Heute darf hier niemand mehr durch, denn Ägypten hält den Übergang aus Sicherheitsgründen geschlossen, nachdem am 5. August ägyptische Soldaten bei einem Anschlag auf der Sinai-Halbinsel getötet wurden. Auch Täter aus dem Gazastreifen sollen dabei gewesen sein. "Selbst wenn die Täter aus Gaza sind, muss man deshalb nicht alle Palästinenser dafür bestrafen", sagt der Hamas-Politiker Mustafa Sawaf, der früher Chefredakteur der Hamas-Zeitung "Filistin" war. Dass das einzige Tor zur Außenwelt jetzt geschlossen ist, wollen viele Palästinenser im Gazastreifen nicht einsehen. "Sie müssen mich rauslassen. Ich habe einen Flug gebucht", sagt Ayed al-Fayyad, ein palästinensischer Mann, der seit Jahren in Saudi-Arabien lebt. Neben dutzenden anderen Leuten hat er sich am Sonntag dort angestellt, wo noch ein Weg nach draußen führt: das unterirdische Tunnelsystem zwischen dem Gazastreifen und der ägyptischen Sinai-Halbinsel.

Die Eingänge in die Tunnel sind unter Zelten versteckt, die unscheinbar am Rande eines Wohnviertels nahe der Grenze am sandigen Boden stehen. Dabei wächst die Angst, dass auch diese Nabelschnur bald abgeschnitten wird, denn Ägypten hat nach den Anschlägen am Sinai damit begonnen, Tunnel auf der anderen Seite zu schließen.

Für Ayed al-Fayyad führt die Reise durch den Tunnel zu einem anderen Problem: Er ist offiziell über die ägyptische Grenze in den Gazastreifen eingereist und hat daher auch einen Stempel im Reisepass. Doch nun muss er illegal durch die Tunnel hinaus, bekommt daher auch keinen Einreisestempel in Ägypten. "Ich habe Angst, dass mich die ägyptischen Beamten wieder vom Flughafen zurückschicken, weil ich offiziell nie nach Ägypten eingereist bin."

Das Tunnelsystem wird von Beamten der regierenden Hamas bewacht. Hektisch winken sie die Leute herbei, die ausreisen dürfen. Zwischendurch fährt ein Lastwagen mit Motoren und Autoersatzteilen aus der Sperrzone. Auch wenn die meisten Importe aus Ägypten seit letzter Woche stocken, dürften einige Waren auch weiterhin nach Gaza kommen. 20.000 Menschen sind bei den Behörden im Gazastreifen für die Ausreise nach Ägypten registriert. Für sie gilt es abzuwarten, ob Ägypten den Rafah-Übergang bald wieder öffnet.

Das alte ägyptische Regime unter Hosni Mubarak hatte den Grenzübergang zum Gazastreifen jahrelang geschlossen gehalten. Erst nach der ägyptischen Revolution im Mai 2011 konnten die rund 1,6 Millionen Menschen im Gazastreifen zum ersten Mal seit vier Jahren wieder relativ frei ausreisen. Doch seit die Hamas den Gazastreifen 2007 nach Gefechten mit der rivalisierenden Fatah-Partei übernommen hat, steht das Gebiet auch unter einer schweren Grenzblockade Israels, die den Personenverkehr sowie Importe und Exporte stark beschränkt. Dass der Grenzübergang Rafah jetzt wieder geschlossen wurde und Ägypten auch noch gegen das Tunnelsystem vorgeht, droht die Menschen im dicht besiedelten Gazastreifen nun völlig zu isolieren.

Kaum Strom und Benzin

"Wir haben viele Patienten hier die für Operationen in ägyptische Krankenhäuser angemeldet sind", sagt Yousef Mudallal, Generaldirektor des Gesundheitsministeriums in Gaza. "Es war schon schwierig, bevor sie Rafah geschlossen haben. Aber jetzt ist alles noch schlimmer." Auch der Bestand einiger Medikamente werde immer knapper. Dabei leidet das Gesundheitssystem auch am akuten Mangel an Strom und Benzin. Treibstoff wurde in den letzten Jahren fast ausschließlich über die Tunnel aus Ägypten eingeführt. Dabei wurde Benzin und Diesel in Mengen von bis zu einer Million Liter täglich unter der Erde nach Gaza gepumpt. Seit Februar sind die Lieferungen völlig eingebrochen, was nicht nur zum Betriebsstillstand des einzigen Kraftwerks geführt hat, sondern auch zu Stromausfällen von bis zu zehn Stunden am Tag. Ganze Stadtviertel bekommen ihren Strom aus Generatoren, für die das Benzin jedoch immer knapper wird. Dass Ägypten jetzt die Tunnel schließt, macht die Situation um einiges schlimmer. "Gestern habe ich den ganzen Tag nach Benzin gesucht, aber die Tankstellen waren leer", sagt Munir Dweik, ein Taxifahrer in Gaza Stadt. "Zum Glück habe ich mir vor langem eine Reserve angelegt." Die Abhängigkeit von Generatoren treibt so manche Unternehmer zu Notlösungen. "Wenn der Strom ausfällt und ich kein Benzin für den Generator habe, sage ich meinen Kunden, sie sollen ruhig nach Hause gehen. Ich rufe sie dann an, wenn es wieder Strom gibt", sagt Raid Tawfiq, der seit 19 Jahren einen Friseursalon betreibt.

Die Menschen im Gazastreifen hoffen, dass der Rafah-Übergang bald wieder offen ist. "In 24 Stunden, wer weiß", meint Mustafa Sawaf zuversichtlich. Trotz der schwierigen Lage für die Gaza-Bevölkerung glaubt er, dass die Krise am Ende auch etwas Gutes bewirken könnte. "Ich hoffe auf eine Freihandelszone zwischen Ägypten und dem Gazastreifen", sagt er. "Wenn Ägypten erst einmal den Grenzübergang öffnet und auch Importe erlaubt, wird der Schmuggel überflüssig."