Die Dominikanische Republik arbeitet mit erheblichem juristischen Aufwand daran, allen Bürgern haitianischer Abstammung die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.
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Um die Frau zu treffen, die die Krise in der Karibik ausgelöst hat, verlässt man die Hauptstadt Santo Domingo in nördlicher Richtung. Nach den letzten Häusern beginnen ausgedehnte Weiden, eine Stunde später geht es im Örtchen Guanuma von der gepflasterten Straße ab. Irgendwann erreicht man Batey Los Jovillos, eine verlorene Ansammlung windschiefer Holzhäuser mit verrosteten Blechdächern. Man fragt einige Mädchen, die unter einem Baum Erbsen sortieren, nach dem Haus von Juliana Dequis Pierre, sie lachen und weisen den Weg. Schüchtern öffnet eine junge schwarze Frau die Tür, hinter ihr streiten zwei Kinder, zwei weitere lugen neugierig an ihr vorbei. Juliana Dequis Pierre sagt: "Buenas tardes."
Der Fall Juliana Dequis
Es ist nur schwer zu glauben, aber wegen dieser stillen Frau vergleicht Mario Vargas Llosa die Dominikanische Republik mit Nazideutschland und überlegt Venezuela, seine billigen Öllieferungen einzustellen. In Kanada gibt es wegen ihr Aufrufe zum Ferienboykott des vermeintlichen Urlaubsparadieses, und die Karibische Gemeinschaft (Caricom) hat die Aufnahmegespräche mit der Dominikanischen Republik suspendiert.
Juliana Dequis bewohnt mit ihren vier Kindern zwei Räume in einem barrancón: ein langgestrecktes Gebäude aus bröckelnden Betonsteinen, in denen die Wohneinheiten wie Zellen aneinandergereiht sind. Der hintere Raum ihres Heims besteht aus zwei Matratzenlagern, in der Fensteröffnung flattert ein Moskitonetz, Plastikeimer auf dem Boden zeigen an, wo es bei Regen durchs Dach tropft. Im vorderen Zimmer stehen ein Tisch, vier Stühle, ein Gasherd.
Es ist zu vermuten, dass keiner der Verfassungsrichter, die am 23. September 2013 über Juliana Dequis ihr Urteil sprachen, wusste, in welch ärmlichen Verhältnissen die 29-Jährige lebt. An jenem Tag entschied das Tribunal Constitucional, das Verfassungsgericht der Dominikanischen Republik und höchste juristische Instanz des Landes, mit elf zu zwei Stimmen, dass Juliana Dequis, die am 1. April 1984 in der Dominikanischen Republik geboren wurde, deren Geburtsurkunde sie als Dominikanerin ausweist, die nie das Land verlassen hat und perfekt Spanisch spricht, dass also diese Juliana Dequis keine Dominikanerin sei und somit keinen dominikanischen Ausweis bekomme. Sie war, von der Menschenrechtsorganisation Mosctha unterstützt, vor das Gericht gezogen, weil man ihr auf dem Einwohnermeldeamt seit Jahren den Ausweis verweigerte und bei einer Gelegenheit auch die Geburtsurkunde einbehalten hatte. Das Gericht erklärte das Vorgehen für rechtens.
Leben ohne Papiere
"Ohne Papiere kann ich nicht wählen, keine weiterführende Schule besuchen und kein Konto eröffnen", zählt Dequis beim Gang durch Los Jovillos die Konsequenzen auf, "ich kann nicht heiraten, nicht reisen und keine Verträge abschließen." Im Grunde existiert Dequis als juristische Person nicht mehr. "Und das alles, weil ich einen französischen Namen habe und schwarz bin", sagt sie. Die Begründung der Richter lautete anders: Julianas Eltern zum Zeitpunkt ihrer Geburt illegal im Land!
Zu dieser Bewertung gehört einiges an Kaltschnäuzigkeit. Blanco Dequis und Marie Pierre wurden Anfang der 1970er Jahre vom staatlichen dominikanischen Zuckerkonzern CEA (Consejo Estatal de Azúcar) aus Haiti ins Batey La Jovilla gebracht, um dort für einen Hungerlohn Zuckerrohr zu schlagen, Zucker war damals das wichtigste Exportprodukt des Landes. Doch man transportierte Blanco und Marie nach getaner Arbeit nicht zurück. Also blieben sie, wie zehntausende andere haitianische picaderos auch. Sie pflanzten Jahr um Jahr die Zuckerrohrstauden. Es war ihnen verboten, das firmeneigene Batey zu verlassen und so richteten sie sich ein. Man zahlte ihnen gerade genug, damit sie überteuerte Nahrungsmittel kaufen konnten, aber nie genug, um im Leben voranzukommen. Sie waren moderne Sklaven. Regelmäßig mussten sie als Sündenböcke für alle möglichen gesellschaftlichen Übel herhalten: dass die Haitianer die Dominikanische Republik überfluteten, hieß es dann.
"Personen im Transit"
Um seiner Entscheidung eine Basis zu verschaffen, erklärte das Verfassungsgericht Julianas Eltern kurzerhand zu "Personen im Transit", eine Kategorie, die eigentlich nur bis zu zehntätige Aufenthalte umfasst. Darüber hinaus legte es fest: Nicht nur Juliana Dequis hat keinen Anspruch mehr auf die dominikanische Nationalität, sondern niemand, der oder die nach 1929 unter "irregulären" Umständen im Land geboren wurde. Die Junta Central Electoral, die zentrale Wahlbehörde, wurde angewiesen alle 55.000 Geburtsregister zu überprüfen und zu "bereinigen". Das Gericht ging von 665.148 Betroffenen aus, das sind fast sieben Prozent der dominikanischen Bevölkerung.
Selten hat ein Land so viel Energie darauf verwandt, einem nicht unerheblichen Teil seiner Staatsbürger die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, und das rückwirkend über 80 Jahre. Beobachtern war klar, dass der Richterspruch einzig auf Personen haitianischer Abstammung zielt. In der "New York Times" bezeichneten die Schriftsteller Junot Díaz und Edwidge Danticat die Entscheidung als "rassistisch". Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa meinte in "El País": "Das Urteil scheint direkt von den Nürnberger Gesetzen inspiriert zu sein."
In der Dominikanischen Republik hingegen begrüßte die rechtsliberale Regierung das Urteil. Das politische und wirtschaftliche Establishment war begeistert: Endlich werde klar gestellt, wer Dominikaner sei. Zustimmend äußerten sich der Erzbischof von Santo Domingo und die Presse. "Das Verfassungsgericht hat ein historisches Urteil getroffen", jubelte die Zeitung "Listin Diario" stellvertretend für die konservativen Medien, die mit einer regelrechten Hetzkampagne gegen die "Eindringlinge" aus dem Nachbarland begannen. Dabei wurde kein Unterschied gemacht zwischen Dominikanern haitianischer Abstammung und Arbeitsimmigranten aus Haiti.
Auf Demonstrationen forderten die Menschen den Bau einer Grenzmauer, viele hielten Plakate in die Höhe: "Verteidige die Heimat!" Bis heute machen Broschüren mit Fotos der "Vaterlandsverräter" die Runde: prominente Dominikaner, die das Urteil kritisch sehen. Mit wem man auch spricht, die meisten haben etwas gegen "die Haitianer". Eine alternativ wirkende Barkeeperin in einem Ferienort: "Ich habe Angst, weil die Haitianer hexen könnten. Sie sind anders als wir, und es gibt zu viele von ihnen."
Juliana Dequis fragt sich derweil, welche Haitianer da gemeint sind. "Ich bin Dominikanerin", sagt sie, "was denn sonst?" Als sie zur Welt kam, registrierten ihre Eltern sie mit dem einzigen Identitätsnachweis, den sie besaßen: das Plastikkärtchen, das ihnen das CEA ausgestellt hatte. Juliana wurde als Dominikanerin ins Geburtsregister eingetragen, denn es herrschte das uneingeschränkte Ius Solis, das Bodenrecht, dass im Land geborenen Kindern automatisch die Staatsbürgerschaft zusprach.
Entrechtete Menschen
Nun hat das Gericht Juliana Dequis zur Staatenlosen gemacht. Ebenso ihre vier Kinder, zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Zurzeit besuchen sie die winzige Grundschule in Los Jovillos, doch danach ist Schluss. Auf welchen Namen sollten ihre Zeugnisse ausgestellt werden? Fälle wie ihren gibt es in der Dominikanischen Republik zuhauf, denn die Behörden verweigern den Kindern haitianisch wirkender Eltern schon seit Jahren die Identitätsnachweise.
Schon 2005 verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den dominikanischen Staat deswegen. Die Dominikaner ignorierten das Urteil. Auf ihrer Inselhälfte wächst eine Generation entrechteter Menschen auf. Sie bilden ein Heer billiger Arbeitskräfte, die sich auf Feldern, als Straßenverkäufer und Prostituierte sowie in Hotelanlagen verdingen. Das ist die ökonomische Komponente des institutionalisierten Rassismus.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts bekam Juliane Dequis viel Besuch: von Zeitungsreportern und Fernsehcrews aus aller Welt. Doch die Dame in Santo Domingo, bei der sie wochentags als Haushälterin für 100 Euro im Monat arbeitete, stellte ihre Sachen wortlos vor die Tür.
Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich eine Insel. Und doch leben sie gefangen in gegenseitigem Misstrauen und lange gereiften Vorurteilen. Es beginnt schon bei der Kultur. In Haiti herrscht König Fußball, im Nachbarland wird Baseball gespielt. In Haiti spricht man Kreolisch, in der Dominikanischen Republik die Weltsprache Spanisch. In Haiti sind sie stolz auf ihre schwarze Haut und die einzige erfolgreiche Sklavenrevolte der Geschichte. Im anderen Inselteil verleugnet man hartnäckig sein afrikanisches Erbe, beruft sich auf La Madre Pátria Spanien, nennt dunkelhäutige Menschen Indios und unterscheidet zwischen "schlechten Haaren" (gekräuselt) und "guten Haaren" (glatt).
Bei den harten Daten sind die Unterschiede ebenso frappierend. Der Human Development Index (HDI) der UN misst die Lebensqualität anhand von Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsgrad und Lebenserwartung. 2013 rangierte Haiti auf Platz 161 von 185 Ländern. Nirgendwo in Amerika leben die Menschen kürzer (62 Jahre) und sterben Neugeborene öfter (165 von 1000). Drei von vier Haitianern leiden unter Hunger oder Mangelernährung. Die Dominikanische Republik rangiert im HDI hingegen auf dem mittleren Rang 96. Nur wenige Grenzen haben ein steileres Gefälle.
Und doch: Es gibt Gemeinsamkeiten. Haiti und die Dominikanische Republik wurden im 20. Jahrhundert jeweils zwei mal von US-Soldaten besetzt und mehrere Jahrzehnte von zwei egomanen Diktatoren beherrscht. Beide Völker feiern Karneval: bunt, dionysisch, laut und wild. Als im Januar 2010 ein schweres Erdbeben die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince zerstörte, waren die Dominikaner unter den Ersten, die schnell und unbürokratisch halfen. Ihre Krankenhäuser in Grenznähe nehmen seit jeher schwangere Haitianerinnen auf.
Und noch eine Gemeinsamkeit: Insbesondere die Männer beider Länder sind fanatische Anhänger des Hahnenkampfs. Die bunt gefiederten, stolzen, aggressiven Hähne, die sich in der runden Arena umkreisen, gleichen sich, teilen ein Schicksal und zanken sich doch bis aufs Blut. Sie sind wie Haiti und die Dominikanischen Republik.
"Wir sind stolz darauf, Dominikaner zu sein!" In einem fensterlosen Konferenzraum im Zentrum Santo Domingos sitzen zwölf junge Schwarze zusammen. Sie sind die Regionalkoordinatoren von Reconoci.do ("Anerkannt"), der aktivsten Protestbewegung im Kampf gegen das Urteil. Einmal im Monat treffen sie sich, um Aktionen zu planen. Alle hier sind Dominikaner mit Vorfahren aus Haiti, die meisten studieren, auch ein erfahrener Anwalt sitzt mit am Tisch. Ihnen allen droht jetzt die Aberkennung der dominikanischen Staatsbürgerschaft.
Sprecherin von Reconoci.do ist Ana Belique. Sie wurde vor 27 Jahren in einem Batey geboren, nun studiert sie Sozialarbeit an der Universität von Santo Domingo. Sie erzählt, dass man seit dem Urteil viel Zuspruch von Künstlern und Intellektuellen erfahre. Aber die meisten trauten sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sogar Präsident Danilo Medina sei ja eingeknickt. Bei einem Treffen im Präsidentenpalast hatte Medina gegenüber Belique und anderen sein Bedauern über die schwierige Situation ausgedrückt, die das Urteil verursacht habe. Nachdem ihm die Medien Schwäche und fehlenden Patriotismus vorwarfen, wurde Medina zum Hardliner. "Es liegt eine gewisse Aggression in der Luft", sagt Belique. Fast täglich erhält sie anonyme Drohungen. Auf Facebook schrieb man ihr: "Du gehörst dahin, wo Sonia Pierre schon ist."
Sonia Pierre war die bekannteste haitianische Menschenrechtsaktivistin. 1983 hatte sie die NGO Mudha gegründet, die Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen. Als sie 2011 starb, war Pierre im Ausland mit zahlreichen Preisen bedacht worden. Aber in der Dominikanischen Republik strafte man sie bis zum Schluss mit Verachtung.
Ihre Tochter ist Manuela Pierre. Die 28-Jährige trägt kurze glatte Haare und arbeitet als Anwältin bei Mudha, mittlerweile eine der prestigeträchtigsten NGOs der Karibik. Sie hat ins Hauptquartier eingeladen, das man an den Stadtrand verlegt hat, weil es im Büro im Zentrum ständig Ärger mit den Nachbarn gab.
Pierre meint, die Erschütterung, die das Urteil des Verfassungstribunals in der haitianischstämmigen Bevölkerung anrichten wird, sei nicht abzusehen: "Einschulungen werden weiter sinken und die Selbstmorde zunehmen. Es wird mehr Sklavenarbeit und Prostitution geben. Die Menschen werden in ständiger Angst vor der Deportation leben."
Lito Santana kann darüber nur lachen. Er ist Pressechef der Zentralen Wahlbehörde (JCE), die im Zentrum der Diskussion steht. Ihr Gebäude wird von einem Plakat überragt, auf dem Juan Pablo Duarte, der Gründungsvater der Dominikanischen Republik, verkündet: "Es erschien mir niemals so wichtig wie heute, dass man Gesundheit, Herz und Urteilsvermögen hat; jetzt wo Männer ohne Urteilsvermögen und Herz gegen die Gesundheit des Vaterlands konspirieren." Man denkt, dass dieser Satz hervorragend passt: Angst, Abwehr, Aggression.
Anspruch und Realität
Bevor der 54-jährige Santana seinen Regierungsjob antrat, war er vier Jahre lang Chefredakteur der Zeitung "Listin Diario". Er sagt: "Leute wie Manuela Pierre werden aus dem Ausland finanziert und leben von der Verbreitung von Lügen." Santana entfaltet die aktuelle Hauszeitschrift "El Demócrata" auf seinem Schreibtisch. Darin gibt der Behördenchef Roberto Rosario unter der Überschrift "Wir sind ein nobles Volk" ein Interview. Er gibt an, dass alle Geburtsregister durchgesehen worden seien. Man habe 13.000 Personen gefunden, die genauer überprüft werden müssten. "Nur 13.000!", lacht Santana, "wir werden sie nicht deportieren, sondern ihnen die Möglichkeit geben, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen." Genauso werde man mit den Haitianern verfahren, die illegal über die Grenze gekommen sind.
Die Angaben der JCE sind eine Sache, die Realität ist eine andere. Wenn man, wie für diese Reportage geschehen, ein Dutzend Bateyes besucht und mit Betroffenen gesprochen hat, dann hört man eins immer wieder: Menschen, die in den Augen der Beamten haitianischer Abstammung sein könnten, werden die Papiere verweigert und bereits ausgestellte Papiere abgenommen.
Lito Santana will nicht ausschließen, dass diese Dinge geschehen. Er betont aber, dass alles nur dazu diene, den Status der Haitianer im Land zu klären. "Niemand kann unsere Entscheidung rückgängig machen. Weder die Karibische Gemeinschaft noch die USA. Und schon gar nicht Mario Vargas Llosa! Es gibt kein Land auf der Welt, dass großzügiger mit den Haitianern umgeht als die Dominikanische Republik."
Philipp Lichterbeck ist Journalist und Autor des Reportagebuchs "Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik" (Dumont).