Pflegemamas und -papas dringend gesucht: Wenn das Jugendamt Eltern ihre Kinder zu deren Wohl wegnehmen muss, finden sie in anderen Familien neue Geborgenheit. Das ist nicht immer einfach - aber sehr erfüllend, wenn es funktioniert. Über einen wichtigen Job, der noch immer für viele exotisch wirkt.
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"Mama Kuchen! Bitte!",
kräht die zweieinhalbjährige Mimi. Sie ist mit ihrer Mutter Eva-Maria Schneider bei deren Freundin Betty Bauer zu Besuch. Und jetzt sitzt ein Teil von deren Großfamilie mit den Gästen gemeinsam am Frühstückstisch. Das Besondere daran: Alle drei anwesenden Kinder, Mimi, die acht Monate alte Lorena und die fünfjährige Romana, sind nicht die leiblichen Kinder von Eva-Maria und Betty, sondern Pflege- beziehungsweise Tageskinder. Während Lorenas Mutter berufstätig ist und die Kleine untertags statt in einer Kinderkrippe eben bei Tagesmutter Eva-Maria untergebracht hat, wurden Mimi und Romana zu ihrem eigenen Schutz den leiblichen Eltern weggenommen, weil diese nicht ausreichend für sie sorgen konnten. Das ist in Wien im vergangenen Jahr 128 Mal passiert. Eine Pflegefamilie auf Dauer ist aber der letzte Ausweg. Oft werden die Eltern auch nur vom Jugendamt unterstützt und kontrolliert.
Der häufigste Grund, warum die Magistratsabteilung 11 (auch Mag Elf genannt) einschreiten muss, ist Vernachlässigung. Das betraf im Jahr 2009 in Wien insgesamt 5621 Meldungen, seelische Misshandlung wurde 3024 Mal gemeldet, körperliche Gewalt 1606 Mal und sexueller Missbrauch 200 Mal. In jedem einzelnen Fall müssen die Sozialarbeiter der Mag Elf dann abklären, wie gravierend die Situation ist und ob das Kind zum eigenen Schutz anderweitig untergebracht werden sollte. Aktuell leben etwas mehr als 1400 Kinder in Pflegefamilien und ebenso viele in Wohngemeinschaften.
Keinen Unterschied machen.
"Natürlich ist es für alle Beteiligten zunächst eine Belastung, wenn ein Kind in einer anderen Familie unterkommt", sagt Betty Bauer aus eigener Erfahrung. "Ein Pflegekind ist ein Überraschungspackerl. Es hat andere Gene und vielleicht auch eine andere Mentalität, reagiert in bestimmten Situationen anders als man selbst - damit muss man umgehen lernen. Und ein Pflegekind ist immer in irgendeiner Form traumatisiert und kann anfangs sehr schwierig sein. Da muss man die Vorgeschichte kennen, um es besser zu verstehen. Und Geduld und Toleranz sind oberstes Gebot. Es ist aber auch eine sehr aufregende Zeit." Eine Zeit, in der natürlich die Sozialarbeiter der Mag Elf besonders intensiv mit Rat und Tat zur Seite stehen. Zusätzlich gibt es einmal im Jahr im Wiener Rathaus einen Pflegefamilienbrunch, bei dem die Familien von der Stadt Wien verköstigt werden und sich untereinander austauschen können.
Betty und Andreas Bauer haben derzeit zwei Pflegekinder, den achtjährigen Sony und die fünfjährige Romana - zusätzlich zu vier gemeinsamen eigenen Kindern im Alter von neun bis vierzehn Jahren und einem großjährigen Sohn aus der ersten Ehe von Andreas. Wobei man sich, wenn man Betty zuhört, mit dem Begriff "eigene Kinder" sehr schwer tut. Denn für sie gibt es da keinen Unterschied: "Sie alle sind meine Kinder", betont sie. Was aber nicht falsch als Besitzanspruch aufgefasst werden darf. Schließlich weiß Betty sehr wohl, dass Sony und Romana eigentlich eine andere Mama haben, auch wenn sie nun Betty so nennen. Vielmehr bedeutet dieser Satz, dass die Pflegemama keinen Unterschied macht zwischen ihren leiblichen Kindern und deren Pflegegeschwistern. "Das wäre auch fatal. Du darfst ja ein Kind nicht so behandeln, als würde es nicht zur Familie gehören."
Das sieht auch Eva-Maria so, die den Beruf - oder besser: die Berufung - der Pflegemama schon in die Wiege gelegt bekam: "Meine eigene Mama hatte schon Pflegekinder, ich bin also mit drei Pflegeschwestern aufgewachsen." Es ist also nicht sehr überraschend, dass sie selbst jetzt auch seit Oktober 2009 Pflegemama ist. Tagesmutter ist sie seit fast sechs Jahren. "Den Unterschied muss ich da oft erklären", erzählt sie. Genauso wie sie oft bei Heimatbesuchen am Land damit konfrontiert ist, dass Pflegekinder auch heute noch für viele Menschen etwas Exotisches sind. "Da kommen dann die alten Leute, streichen der Mimi durch die Haare und fragen mich, wo denn dieser kleine schwarze Käfer herkommt. Die Kleine ist ja Halbirakerin. Am Anfang gab es dann natürlich gleich Gerüchte, ich hätte was mit einem Iraker, bis ich erklärt habe, dass sie nicht mein leibliches Kind ist - was aber noch komplizierter war."
Es ist also nicht immer leicht, eine Pflegemama zu sein. "Aber wenn du es dann geschafft hast, eine Bindung zum Kind aufzubauen, ist es umso erfüllender", sagt Betty, die ebenso wie Eva-Maria aus langjähriger Erfahrung beide Varianten kennt: nämlich jene, bei der die "echten" Eltern ihre Kinder entweder gar nicht sehen wollen oder um sie kämpfen und den Pflegeeltern das Leben schwer machen; und jene, bei der die Kooperation zwischen leiblichen und Pflegeeltern gut funktioniert. Es ist nämlich in der Regel nicht so, dass Eltern, denen das Kind weggenommen werden muss, danach komplett abgeschottet werden - außer in ganz schwerwiegenden Fällen, in denen weiterer Kontakt schlimme Traumata verursachen könnte.
Eva-Maria kann sich noch gut erinnern, wie es bei einer ihrer Pflegeschwestern war: "Da war die Mutter förmlich verschwunden, und irgendwann hat sie ständig zu weinen begonnen und war überzeugt: Meine Mama ist tot. Wir haben sie dann gesucht und nach tausend Kilometern Autofahrt in irgendeinem Kuhkaff gefunden. Beim dritten Kontaktversuch ist es dann zu einem Treffen gekommen, das war sehr befreiend für die Kleine, weil sie endlich ihre Mutter gesehen hat."
Das Schlimmste, was passieren könne, sei, "dass die leiblichen Eltern ihr Kind gar nicht sehen wollen", meint Betty. "Es ist auch gut so, wenn die Kinder, die ja meist schon als Kleinkinder in Pflegefamilien kommen, ihre leiblichen Eltern kennen - und auch deren Lebensrealität", sagt Andreas Bauer. "Dann stellen sie sie nämlich nicht auf ein Podest und idealisieren sie." Als sehr heilsam erwies sich da ein Besuch bei Sonys Mama zuhause, erzählt Betty: "Er dachte, dort wäre ein großes Kinderzimmer mit tollem Spielzeug - aber das war nicht so. Im Gegenteil. Da hat er verstanden, dass er nicht bei seiner leiblichen Mama leben kann und dann auch sein inneres Gleichgewicht gefunden." Auch das darf nicht als Aussage einer Konkurrentin verstanden werden, sondern kommt aus dem Mund einer aufopfernden Pflegemama, die sich einfach darum sorgt, was das Beste für ihr Pflegekind ist. "Insofern bin ich auch sehr froh, dass wir einen so guten Kontakt zu den leiblichen Müttern von Sony und Romana haben. Vor allem mit Romanas Mama habe ich lange Gespräche geführt." Da wird dann die Pflegemama auch zur Sozialarbeiterin - ausgerechnet für diejenige Person, von der man als Außen-
stehender eher annehmen würde, dass sie das Feindbild für die "neuen" Eltern wäre, weil sie ja ihr Kind so schlecht behandelt hat. Aber: "Man darf niemanden verurteilen, dem sein Kind weggenommen wird. Vielleicht wäre es mir ja in ihrer Situation genauso gegangen", stellt Betty klar. "Und jedes Kind hat schließlich ein Recht auf seine Eltern - auch wenn der Kontakt in vielen Fällen auch das Kind immer wieder aufs Neue aufwühlt." Wenn es aber so gut funktioniert wie bei den Bauers, dann kommt "die andere Mama" auch regelmäßig auf Besuch. "Wir haben da einen Idealfall", gibt Betty zu. Die Kunst für sie liegt darin, dass die Pflegekinder in diesem ohnehin schwierigen Spannungsfeld zwischen zwei Müttern nicht noch mehr belastet werden. Ein Konkurrenzkampf wäre da mit Sicherheit das Schlechteste.
Vergleichbar mit Scheidung.
Diese Situation kennt Betty Bauer auch, "aber nicht als Pflege-, sondern als Stiefmutter von unserem Ältesten." Und, so ergänzt sie, im Vergleich zum Obsorgestreit mit Andreas geschiedener Frau sei das Verhältnis zu Sonys und Romanas Eltern richtig freundschaftlich. Prinzipiell könne man die beiden Situationen durchaus vergleichen, meint sie. Interessant war dabei übrigens: Der Sohn aus erster Ehe konnte zunächst mit dem Thema Pflegekinder wenig bis nichts anfangen. "Aber dann hat gerade er eine besonders große Solidarität zu seinem Pflegebruder entwickelt", erinnert sich Betty. Bevor Romana in die Familie kam, haben die Bauers ihre anderen Kinder befragt, ob sie noch ein Kind aufnehmen sollen. Ihre Zustimmung haben diese nicht bereut. Und vor allem für Sony und Romana sei es gut, ein Geschwister mit einem ähnlichen Schicksal zu haben, "weil sie sich dann später austauschen können, wie es ihnen damit gegangen ist", glaubt Betty. Angst, dass sie "ihre" Kinder wieder verlieren könnte, hat sie keine. "Erstens passiert es eher selten, dass Pflegekinder, wenn sie einmal dauerhaft in einer Familie eingebettet sind, wieder zu den leiblichen Eltern zurückkommen - mit 14 Jahren können sie in eine WG oder zurück zu den leiblichen Eltern ziehen, wenn sie wollen. Es liegt halt auch an den Pflegeeltern, sie entsprechend großzuziehen und ihnen das Gefühl eines Zuhause zu vermitteln - und ihnen aber gleichzeitig auch den Kontakt zu ihren leiblichen Eltern weiterhin freizustellen. Und zweitens hat mir Romanas Mutter selbst gesagt, dass sie heilfroh ist, dass ihre Tochter jetzt bei uns lebt und wir für sie sorgen." Vom Gedanken, die Kinder irgendwann wieder hergeben zu müssen, sollten sich potenzielle Pflegeeltern jedenfalls nicht abschrecken lassen. Schließlich werden ja auch leibliche Kinder irgendwann einmal flügge. Loslassen lernen müssen also alle Eltern sowieso irgendwann.
NFO & KONTAKT.
Pflegeeltern brauchen eine Eignungsbeurteilung des Jugendwohlfahrtsträgers. Persönliche, soziale, gesundheitliche und wirtschaftliche Bedingungen werden durch Sozialarbeiter der MA 11 überprüft. Menschen in unterschiedlichen Lebensformen - alleinstehend, in einer (gleichgeschlechtlichen) Partnerschaft, verheiratet, mit Kindern, ohne Kinder - können Pflegemama oder Pflegepapa werden.
Pflegeeltern werden auf ihre Aufgabe mit einem Vorbereitungsseminar in mehreren Modulen vorbereitet. Die Mag Elf steht ihnen auch nachher in allen Situationen mit Rat und Tat zur Seite.
Folgende Fragen sollten potenzielle Pflege-
eltern mit Ja beantworten können:
? Sind Sie offen für Neues?
? Können Sie Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten gut lösen?
? Sind Sie krisenfest und belastbar?
? Haben Sie Erfahrung in der Kindererzie-hung und -betreuung?
? Sind Ihre Lebensweise und Ihr Haushalt auf Kinder eingestellt?
? Sind Sie frei von Lebenskrisen, finanzi-ellen Sorgen oder sonstigen Problemen?
? Sind die übrigen Familienmitglieder für die Aufnahme eines Pflegekindes?
? Können Sie ein harmonisches, warmher-ziges, kindgerechtes und verständnis-volles Familienklima gewährleisten?
? Sind Sie bereit, Besuche der leiblichen Eltern zu empfangen und der Familie des Kindes positiv zu begegnen?
? Könnten Sie es auch verkraften, ein Kind vielleicht sehr kurzfristig aufzunehmen und kurzfristig wieder abzugeben?
Die leiblichen Eltern haben das Recht, die Rückgabe des Kindes zu beantragen. Die meisten möchten so bald wie möglich wieder selbst für ihre Kinder sorgen. Die Rückkehr zu den leiblichen Eltern ist auch grundsätzlich das langfristige Ziel einer Pflegeunterbringung - sofern dies dem Kind auch gut tut.
Mehr Informationen im Internet:
www.pflegemama.at, www.pflegepapa.at