Die radikalislamische Terrormiliz Isis stößt nun auch in die kurdischen Gebiete des Irak vor. | Die Regierung in Bagdad ordnet Luftangriffe zur Unterstützung der kurdischen Gegenoffensive an.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Bagdad/Erbil/Wien. "Wir alle sind sprachlos", sagt Hani. Der Iraker hatte es wenige Tage nach der Übernahme seiner irakischen Heimatstadt Mossul Anfang Juni durch die radikal-islamische Miliz Isis (auch IS) unter Lebensgefahr in die benachbarte autonome Kurdenregion geschafft - und sich dort in Sicherheit gewähnt. Doch seit dem Wochenende sei alles anders, erzählt er. "Wir dachten, sie sind stärker."
Mit "sie" meint er die kurdischen Peschmerga-Milizen - die "Armee" der autonomen kurdischen Region im Norden des Irak. Sie gelten als hervorragend trainiert und ausgerüstet. Vor allem aber eilt ihnen der Ruf einer hohen Moral voraus. Dieser steht im krassen Gegensatz zum Ruf der irakischen Armee, der extremst ramponiert ist, seit ihre Soldaten Anfang Juni, als Isis in Mossul einfiel, die Uniformen einfach mitten auf der Straße auszogen und davonliefen, ohne sich dem Kampf mit Isis zu stellen. Zudem gilt Irakisch-Kurdistan seit Jahren als eine Insel der Sicherheit - seit 2008 wurden hier lediglich zwei Anschläge verzeichnet.
Bisher war die kurdische Region auch kaum vom Handeln der Isis-Kämpfer betroffen. Dies brachte ihr zwischenzeitlich aus Bagdad den Vorwurf ein, man würde mit der Terrormiliz kooperieren, was die kurdische Regionalregierung umgehend zurückwies. Nun scheint Isis, das bereits gut ein Fünftel des irakischen Staatsgebietes kontrolliert, aber auch den Kurden zuzusetzen. Binnen weniger Tage eroberten die sunnitischen Kämpfer die nordirakischen und unter kurdischer Kontrolle stehenden Städte Sumar, Sindschar und Wana sowie das Salah-Ölfeld und eine benachbarte Raffinerie. Zudem sollen sie unbestätigten Berichten zufolge auch die Kontrolle über die Mossul-Talsperre übernommen haben. Damit wären sie in der Lage, die Millionenstadt Mossul unter Wasser zu setzen.
In der kurdischen Region, in die massenhaft Iraker aus den von Isis eroberten Gebieten geflohen waren, sitzt der Schock nun tief. Viele hatten damit gerechnet, dass Isis weiter in Richtung Bagdad vorstoßen wird - aber freilich auch, dass die kurdischen Peschmerga im Falle des Falles locker dagegenhalten würden. Weder die Logik der Isis-Angriffe noch die Gründe für die Schlagkraft ihrer Kämpfer erschließt sich den Irakern. "Sie sind wie Geister", sagt Hani. "Sie tauchen plötzlich wie aus dem Nichts auf." Und niemand wüsste oder könne vorhersagen, warum sie wann was tun.
"Das ist noch nicht der Gipfel der Isis-Angriffe"
Laut dem neuesten Bericht des US-Think-Tanks "Institute of Study of War" sind aber mehrere verstreute Angriffe von Isis über die letzten Wochen entlang der kurdischen Region nördlich und westlich von Mossul nicht als zufällige Angriffe zu sehen. Sie hätten vielmehr dazu gedient, die Peschmerga-Kräfte auszudünnen und ihre Mobilität - etwa durch Brückensprengungen - einzudämmen. "Isis hat von der Vorbereitung in den kurdischen Gebieten in die Angriffsphase gewechselt", heißt es in dem Bericht. Die jetzigen Geschehnisse seien ein Beleg dafür, dass die Angriffe von Isis noch nicht den Gipfel erreicht hätten, sondern viel eher aus einer Serie von Offensiven bestehe, die simultan oder der Reihe nach ausgeführt würden.
Auch in den kurdischen Gebieten scheint die Terrormiliz gleich brutal vorzugehen wie in den bereits eroberten Gebieten. Augenzeugenberichten zufolge wurden nach der Eroberung von Sindschar 67 junge Männer mit Schüssen hingerichtet. Bei den Opfern habe es sich um Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden gehandelt. Sie hätten sich geweigert, zum Islam überzutreten.
In Irakisch-Kurdistan ist man entschlossen, die verlorenen Gebiete so schnell wie möglich zurückzuerobern. Am Montag kündigten Kurden-Vertreter den Start einer Gegenoffensive an. Der Rückzug der kurdischen Einheiten am Wochenende - der eine Massenflucht von 200.000 Menschen ausgelöst hatte - wurde mit einer Überlastung der Truppen in dem weitläufigen Gebiet begründet. Angesichts der neuen Erfolge von Isis wollen - ungeachtet wiederholter Differenzen wegen Finanz-, Öl- und Landfragen - die halbautonomen Kurden und die schiitische Regierung in Bagdad ihre Kräfte nun bündeln. Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki befahl der Luftwaffe am Montag, die kurdischen Einheiten zu unterstützen. Sowohl Maliki als auch kurdische Vertreter forderten zudem die USA zu Waffenlieferungen an die Kurden auf.
Laut "Institute of Study of War" ist es "unwahrscheinlich", dass die Peschmerga die Kontrolle in allen verlorenen Orten wieder herstellen. Auch andernorts im Land kämpft die irakische Armee gegen die Terrormiliz, konnte ihr bisher aber kaum etwas entgegensetzen. "Wir sehen niemanden, der Al-Kaida angreift", sagt Hani frustriert und nennt Isis bei ihrem alten Namen, Al-Kaida im Irak. Die Enttäuschung über irakische Sicherheitskräfte und die internationale Gemeinschaft ist groß. Seine letzte Hoffnung sind die Iraker selbst, die langsam von den Extremisten die Nase voll hätten und diesen vermehrt und "immer furchtloser" entgegentreten würden.