Das Ende der "Wiener Zeitung" ist eine vergebene Jahrhundertchance.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es sind stürmische Zeiten für den Qualitätsjournalismus. Auf immer mehr Plattformen buhlen seriöse Inhalte neben Fake News, Katzenvideos und Verschwörungstheorien um Aufmerksamkeit. Im Dauerfeuer der Belanglosigkeiten reiht sich qualitätsvoller Journalismus ein in einen gereizten Mahlstrom greller Bilder und ebensolcher Schlagzeilen. Lies mich! Klick mich! So tönt es aus allen Kanälen. Die rasante neue Medienwelt ist die tragische Gleichsetzung von Ungleichheit; die Horrorvision absoluter medialer Basisdemokratie, in der jede Stimme ungeachtet ihres Inhaltes gleich viel zählt; in der das Gegensatzpaar Wahrheit und Lüge dabei ist, sich aufzulösen in einem amorphen Datenstrom. Neben der Kannibalisierung der Inhalte untergraben Tech-Giganten die finanzielle Geschäftsgrundlage von Verlagen, das verbleibende Geld fließt in große Player und den Boulevard. Die Einstellung der "Wiener Zeitung" ist damit zumindest auch ein Symptom unserer Zeit.
Das jähe Ende einer 320-jährigen Geschichte ist aber vor allem das Resultat einer gescheiterten Medienpolitik. Nicht Stolz auf eine traditionsreiche Marke in den Händen der Allgemeinheit hat diese Entscheidung befeuert, sondern Ratlosigkeit und das notgedrungene Erschließen - man ist geneigt zu sagen: Erfinden - neuer Geschäftsfelder.
Stürmische Zeiten für den Journalismus bedeuten auch schwere Zeiten für die Demokratie. Nicht, weil Journalistinnen und Journalisten es besser wüssten; nicht, weil wir uns als Wächter der Moral verstünden. Stabile, lebendige Demokratien brauchen unabhängige Redaktionen, um gesellschaftliche Debatten mit Fakten und Differenzierungen auf solide Beine zu stellen; um den Raum für populistische Verführungen klein zu halten; um mündige Bürgerinnen und Bürger mit dem notwendigen Wissen auszustatten, um tragfähige Entscheidungen zu treffen - im Supermarkt wie an der Wahlurne.
Dafür braucht es in einem Medienmarkt wie Österreich, in dem die Verflechtung zwischen Politik und Medien eine allzu verworrene ist, mehr Qualitätsjournalismus und nicht weniger.
Nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich ist das Ende der "Wiener Zeitung" eine vergebene Jahrhundertchance. Das Erdenken einer neuen Finanzierung für die Zeitung der Republik - wie auch für den ORF - hätte die Chance für einen medienpolitischen Diskurs und eine daraus resultierende Neuaufstellung des Medienstandortes beinhaltet, um ihn durch unabhängige, an Qualitätskriterien gebundene Finanzierung langfristig abzusichern. Sie wäre möglich gewesen, eine Medienpolitik, die nicht alle beschneidet, sondern alle stärkt. Ob eine neue Regierung diese Chance wieder/noch/doch ergreift? Es ist bekanntlich die Hoffnung, die zuletzt stirbt.