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"Sie Trottel"

Von Simon Rosner

Politik
© Peter M. Hoffmann

Fragen zur Zuwanderung werden in einer selten zuvor erlebten Unversöhnlichkeit verhandelt.


"Zu einem guten Diskussionsstil gehört neben wechselseitigem Respekt unter anderem, gegenteilige Argumente und Meinungen zuzulassen und genau zu prüfen, anstatt diese vorschnell zu verwerfen. Ein guter Diskutant hört zu, lässt ausreden und ist konzentriert genug, um auf das vom Gegenüber Gesagte einzugehen und seine eigenen Argumente sachlich darzustellen." (Wikipedia)

In journalistischen Texten aus Wikipedia zu zitieren ist ein ähnliches No-Go wie das Wort No-Go in der deutschen Sprache zu verwenden. In diesem Fall ist ein Zitat aus der Online-Enzyklopädie aber aus zwei Gründen angebracht. Erstens ist es eine treffende Beschreibung. Und zweitens ist diese ja selbst das Ergebnis eines Prozesses der kollektiven Wissensfindung, also in gewisser Weise einer Diskussion.

Diese Definition ist auch eine Erinnerung, dass sich die gegenwärtigen öffentlichen Debatten über den Umgang mit Migration (und nicht nur darüber) weit von diesem guten Diskussionsstil, wie er auf Wikipedia beschrieben wird, entfernt haben. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, dass wir das Diskutieren verlernt und vergessen haben; und eng damit verknüpfte Tugenden gleich mit: das Zuhören, das Tolerieren anderer Meinungen, die Neugier auf andere Sichtweisen.

Diese Entwicklung stellt eine demokratiepolitische Bedrohung dar; eine größere als sie von Flüchtlingen ausgeht, von denen viele glauben, sie würden sich erst in Jahren an "unsere demokratischen Werte" gewöhnen. Es wäre daher wichtig, den mittlerweile von fast allen politischen Seiten ertönenden Ruf an die Flüchtlinge nach "Werteeinhaltung" auch als Echo zu vernehmen. Es nennt sich Selbstreflexion. Wer von anderen etwas selbstverständlich Geglaubtes einmahnt, sollte stets darüber nachdenken, wie weit es mit dieser Selbstverständlichkeit tatsächlich ist. Freiheit? Säkularismus? Gleichstellung? Solidarität?

Die Diskussionskultur ist in diesem Sinn kein Wert. Sie ist als Fundament europäischer Demokratien zu begreifen. Eine funktionierende parlamentarische Demokratie, die mehrheitsfähige, sinnvolle Entscheidungen hervorbringt, ist ohne Streitkultur schlicht nicht denkbar. Und das betrifft alle Ebenen des politischen Lebens: die Debatten im Nationalrat, den Wettbewerb der Ideen im Wahlkampf, die tagtäglich millionenfach geführten Diskussionen im Büro, daheim, unter Freunden, virtuell oder reell. Nur so können sich Meinungen und Ansichten bilden, nur so können qualifizierte Wahlentscheidungen getroffen und im Parlament vernünftige Gesetze verabschiedet werden.

Im Privaten wie in der öffentlichen Diskussion gilt, dass sachliche Debatten grundsätzlich zu besseren Ergebnissen führen als emotionale. Aber natürlich ist die Emotion nicht so einfach herauszuhalten, wie jeder weiß, der schon einmal mit dem Partner wegen Unwichtigkeiten heftig in Streit geraten ist. Es ist allerdings auch Teil einer funktionierenden Streitkultur, gemeinsam einen Weg zur Versachlichung zu suchen statt einfach nur immer lauter die eigenen Positionen zu deklamieren.

Nahezu unmöglich werden Debatten, wenn sie mit ideologischer Identifikation verknüpft sind. Dann bleibt kaum Raum für Argumente. Sie werden sinnlos, weil das Gegenüber auf sie nicht nur nicht eingehen will, sondern auch nicht auf sie eingehen kann. Es würde die eigene Identität angreifen. Die Autoliebhaberin wird durch die besten Argumente nicht von ihrer Passion abzubringen sei, ein Veganer nicht seine Ideologie über Bord werfen.

Dafür oder dagegen?

Nun sind Fragen der Zuwanderung seit langem in einer Art ideologisch aufgeladen, dass eine sinnvolle, also möglichst sachliche Debatte, selbst über Detailfragen, kaum noch existiert. Wenn wir aber nicht mehr diskutieren können, lässt sich auch keine vernünftige Politik mehr machen.

Der FPÖ unter Jörg Haider war es gelungen, wachsende Ressentiments in der Bevölkerung gegen die Migration von Gastarbeitern anzusprechen und aus diesen Vorbehalten und Unsicherheiten konkrete politische Forderungen zu formulieren. In der Frage der Zuwanderung führte das zu Polarisierung und zwei klar abgegrenzte politische Lager. Links und Rechts waren kaum noch einordnende Begriffe wirtschaftspolitischer Ideologien, sie definierten vieleher den Standpunkt in Fragen der Zuwanderung. Dafür oder dagegen?

Wirklich konsistent waren diese Positionen natürlich nicht. So gab es Apologeten einer multikulturellen Gesellschaft, die dann doch eine protektionistische Arbeitsmarktpolitik befürworteten. Auf der anderen Seite konnte die Ablehnung von Migranten auch nicht konsequent durchgehalten werden. Weite Teile des Dienstleistungssektors würden schlicht nicht existieren. Schon unter Haider begann die FPÖ rhetorisch in fleißige und faule Ausländer zu trennen, Nachfolger Heinz-Christian Strache drehte dies insofern weiter, indem er die serbische Community zu antichambrieren begann. Die neue Trennlinie war integriert/nicht integriert, was aber so gut wie gleichbedeutend mit christlich/muslimisch war.

Eine Frage der Identität

Der Standpunkt in der sogenannten Ausländerfrage war ganz wesentlich für die eigene politische Verortung. Womit aber eben auch klar war, dass Diskussionen eher sinnlos sind. In der Retrospektive könnte man zum Schluss kommen, dass dies recht bequem für alle war. Die Zuwanderung ist ein ungemein komplexes Thema, das von der Bildung über den Arbeitsmarkt zur Stadtplanung in fast alle Lebensbereiche hineinwirkt. Das simplifizierende "Dafür-oder-dagegen?" machte ein (mühsames) Abwägen und Diskutieren von Vor- und Nachteilen nicht notwendig.

Seit Sommer scheint nun dieses verfestigt geglaubte Gebilde zu erodieren. Auf einmal wird zusehends unklar, wo die anderen, die Freunde und Kollegen, stehen, wo die Politiker, die man einst wählte. Es wird diskutiert, doch die Diskussion scheitert. Jedes kleine Aber führt zu heftigen Reaktionen. Linke artikulieren Zweifel und werden augenblicklich als Rechte ausgemacht. So mancher Konservative rutscht weit rechts hinaus, andere Konservative betonen wiederum das Helfen als Maxime und werden von rechter Seite verunglimpft. Es ist verwirrend.

Bemerkenswert ist, mit welcher Heftigkeit und welchem Hass die Debatten geführt werden. Auch hier zeigt sich, wie brüchig dieses Fundament der Demokratie geworden ist. Eine grundsätzliche, tiefe Verachtung der anderen Sichtweise zerstört nicht nur jede Diskussion im Ansatz, sie ist weitergedacht (und historisch belegbar) absolut demokratiegefährdend.

Die Herausforderungen durch die Fluchtbewegungen sind aber groß genug, dass viele Fragen in ihrem Zusammenhang besprochen werden müssen. Im Kleinen wie im Großen, auf politischer Ebene wie in Diskussionsrunden. Was für vernünftige Debatten Voraussetzung wäre, der wechselseitige Respekt, das Zulassen gegenteiliger Meinungen und Argumente, das Zuhören, funktioniert überhaupt nicht.

Es ist schwer einzuschätzen, wie die Debatte verlaufen würde, gäbe es Soziale Medien im Internet nicht. Klar ist aber, dass diese Interaktionsmöglichkeiten etwas Grundlegendes verändert haben. Zwischen der privaten Diskussion (im Büro, am Stammtisch, daheim, etc.) und der öffentlichen Debatte (in Medien, bei Podiumsdiskussionen) hat sich eine dritte, semiprivate Ebene geschoben. Sie ist nicht unbedeutend.

Keine Affektkontrolle

Einander völlig Fremde diskutieren über alles und jedes, können mediale Äußerungen und Berichte kommentieren und verbreiten. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, zumal schriftlich geführte Diskussionen Gelegenheit böten, über Thesen, auch eigene, länger zu reflektieren und an der Argumentation zu feilen. In der Realität findet das im Stakkato von Tweets und Postings aber kaum statt. Es gibt so gut wie keine Affektkontrolle. Wobei besonders aggressive und stumpfsinnige Kommentare tendenziell mehr Aufmerksamkeit erhalten. Auch das ist problematisch.

Dazu kommt, dass lange üblich war, anonymisiert zu kommentieren, was erst durch das Aufkommen von Facebook einigermaßen durchbrochen wurde. Dass im Schutz der Anonymität die Hemmschwelle zur Beschimpfung niedriger gesetzt ist, erscheint logisch. Doch auch mit korrekt angegebener Identität bleiben Ausfälligkeiten nicht aus. Ist es Gewohnheit? Oder sind wir unversöhnlicher, wenn wir dem Streitpartner nicht in die Augen schauen?

Dabei könnten soziale Medien als Diskussionsplattform eine wichtige Aufgabe erfüllen. Bisher ist das aber eher ein theoretischer Gedanke. Die Ausnahme stellt hier das eingangs erwähnte Wikipedia (und verwandte Plattformen) dar. Es beruht auf dem kollektiven Wissen seiner Nutzer, wobei auch aktuelle Themen behandelt werden. Jeder Artikel kann von jedem verändert und die Ergänzungen können diskutiert werden. Es gibt Sanktionen, wenn sich Teilnehmer nicht an gewisse Diskussionsregeln halten. Wikipedia lebt davon, dass auf sachlicher Ebene debattiert wird, eben weil es bessere Ergebnisse hervorbingt. Es gibt Versuche, etwa durch die Piratenpartei, diese Grundidee in politische Entscheidungsprozesse zu übersetzen. Wirklich durchgesetzt hat sich dies jedoch nicht.

Klar ist, dass viele Debattenbeiträge nun publik werden, die früher im Zwischenmenschlichen geblieben sind, was manchmal vernünftig wäre. Der "Stammtisch" wurde zwar zitiert, aber eher sinnbildlich, nicht jede Äußerung. Seine Bedeutung, auch in Bezug auf die Streitkultur, sollte aber nicht unterschätzt werden. Es ist grundsätzlich wichtig, dass es Diskussionsorte gibt, wie immer sie auch aussehen, virtuell wie reel. Debattieren will gelernt sein. Die Frage ist nur wie und wo?

Bewusstes emotionalisieren

Auch die Politik hat in Sachen Streitkultur eine Verantwortung und möglicherweise, da Zukunftsängste in der Gesellschaft spürbar wachsen, sogar eine größere als bisher. Doch die Politik wird dieser Verantwortung kaum gerecht, vielmehr wird der Öffentlichkeit ein Schaukampf des Dissens dargeboten, längst auch zwischen Koalitionsparteien.

Dazu kommt, dass längst alle Parteien, aber auch Lobbygruppen, bemüht sind, so ziemlich jedes Thema, von Pensionen ("Unsicher!") über TTIP ("Chlorhuhn") bis zur Standortpolitik ("Abgesandelt") zu emotionalisieren. Und das ist das Gegenteil des Versuches, ein Thema auf eine sachliche Verhandlungsebene zu bringen. Politisch-strategisch mag das sinnvoll sein, für die funktionierende Diskussionskultur ist es verheerend. Auf Wikipedia steht: "Ein guter Diskutant ist im Idealfall gelassen und höflich. Oftmals ist aber Gegenteiliges zu beobachten, zum Beispiel in der Politik."