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Sie tun, wofür sie gewählt wurden

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Warum es politisch völlig richtig ist, illegale Migration trotz stark sinkender Fallzahlen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.


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Dass die Wiener Regierung - so, wie mittlerweile fast alle anderen in Europa - den Kampf gegen die illegale Migration zu einer ganz zentralen Priorität erklärt hat und auch entsprechend handelt, denunzieren deren zahlreiche Gegner in der meinungsbildenden Klasse zunehmend als einen üblen Propagandatrick ohne jeden Faktenbezug. "Im Krisenjahr 2015 haben noch 88.340 Menschen einen Asylantrag gestellt, heuer waren es laut Innenministerium nur noch 6113. In Wahrheit gibt es also fast keine Asylanträge mehr," befindet inhaltlich korrekt etwa "Falter"-Chefredakteur Florian Klenk. Also: Weitergehen, Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen. Selbst Christoph Kardinal Schönborn sah sich genötigt, öffentlich Entwarnung zu geben: "Europa mit mehr als 500 Millionen Menschen macht so einen Wirbel wegen zwei Millionen Flüchtlingen." Der öffentliche Diskurs, so der Kirchenmann, sei von "Angstmache" und "Populismus" getrieben.

Nun ist es schon irgendwie heiter, dass ausgerechnet der hiesige Chef jener Kirche nun vor den Gefahren der "Angstmache" warnt, die wie kaum eine andere Institution zwei Jahrtausende lang "Angst" als perfektes Herrschaftsinstrument verwandt hat und die zum Beispiel bis in unsere Tage Schwulen die Hölle als spirituelle Endlagerstätte androht; aber geschenkt. Kernkompetenz eines Kardinals ist eben per Definitionem eher das Jenseitige denn das Diesseitige.

Interessant hingegen ist, dass sowohl Klenk als auch der Kardinal bei ihrer Kritik ein ganz spezifisches Charakteristikum unserer Parteiendemokratie ausblenden: Sie übersetzt nämlich das, was die Mehrheit will, nur sehr langsam in Politik. Zwischen einem einschneidenden Ereignis wie dem Herbst 2015 vergehen bei einer Legislaturperiode von vier, fünf Jahren rein statistisch im Schnitt zwei bis drei Jahre, bevor der Mehrheitswille auch wirken kann. Fast überall in Europa sind deshalb erst seit kurzer Zeit jene Regierungen an der Macht, die als Folge der Ereignisse von 2015 gewählt worden sind. Es ist daher kein Zufall und auch nicht (nur) Populismus, wenn diese Regierungen jetzt trotz stark gesunkener Migrantenzahlen diesem Problem Gewicht beimessen - dafür wurden sie ja schließlich gewählt.

Dazu kommt, dass wohl nicht einmal Kardinal Schönborn mit seinen besonderen Beziehungen nach ganz oben auch nur die geringste Ahnung hat, wie sich die Migrationsströme in einem Jahr, in fünf Jahren oder in zehn Jahren entwickeln werden. Kann sein, dass 2015 eine einmalige Anomalie war, kann genauso gut sein, dass jener Herbst nur Vorbote eines neuen Normal war - wir wissen es einfach nicht. Daraus den Schluss zu ziehen, es gäbe eigentlich wichtigere Politikfelder, um die sich Europas politische Eliten kümmern sollten, wäre nicht rasend intelligent.

Wer etwa als Bürgermeister nach einem Jahrhunderthochwasser nicht plant, wie so etwas in Zukunft verhindert werden könne und stattdessen argumentiert, jetzt sei ja eh wieder alles trocken und Jahrhunderthochwasser ohnehin seltene Ereignisse, der wird eher nicht im Interesse seiner Wähler handeln. Mit "Populismus" und "Angstmache" hat es nichts zu tun, aus Fehlern zu lernen.