Während Istanbul trauert, ist der mutmaßliche Attentäter zwar identifiziert, aber nicht gefasst.
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Istanbul. Leere Straßen in Szenevierteln, verödete Klubs und Bars - die Partystadt Istanbul hat der schreckliche Terroranschlag in der Silvesternacht schwer getroffen. Die türkische Regierung nimmt ihn zum Anlass, um den Ausnahmezustand im Land bis ins Frühjahr hinein auszudehnen. Eine Verlängerung um weitere 90 Tage werde in dieser Woche im Parlament eingebracht, kündigte Ministerpräsident Binali Yildirim von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP am Dienstag an. Den Ausnahmezustand hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kurz nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli ausgerufen.
Unterdessen läuft die Fahndung nach dem flüchtigen Attentäter, der in der Silvesternacht in der Istanbuler Nobeldisco Reina 39 Menschen erschoss und 69 teils schwer verletzte, weiter auf Hochtouren. Die Verantwortung für den Anschlag hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) übernommen: Ein "Soldat des Kalifats" habe den "berühmten Nachtklub" attackiert, "wo die Christen ihr ungläubiges Fest feiern", schrieb sie auf ihrer Webseite "Amak".
Der flüchtige Nachtklub-Attentäter ist nach der Veröffentlichung von Videos aus Überwachungskameras inzwischen identifiziert worden. Laut Angaben der regierungsnahen Zeitung "Habertürk" handelt es sich um einen 28-jährigen Mann aus Kirgistan, der in Syrien für den IS gekämpft haben soll. Er sei mit seiner Frau und zwei Kindern aus Syrien eingereist und habe sich ab dem 22. November zunächst in der zentralanatolischen Stadt Konya aufgehalten. Türkische Medien veröffentlichten am Dienstag ein Selfie-Video, das der Verdächtige offenbar kurz vor der Tat von sich aufgenommen hatte. Es zeigt, wie er sich nahe dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls durch eine belebte Gegend bewegt.
Trotz verhängter Nachrichtensperre haben die Medien zahlreiche Informationen über den Ablauf des Massakers und den vermuteten Hintergrund des Terroristen zusammengetragen. Nachdem der Mann den einzigen Polizisten am Einlass erschossen hatte, war er um 1.20 Uhr in den Nachtklub am Bosporusufer eingedrungen und hatte mit einem Kalaschnikow-Gewehr wahllos auf die Partygäste gefeuert. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass alle Kugeln aus derselben Waffe stammen. Sechsmal soll der Attentäter sein Magazin gewechselt und über 180 Schüsse abgegeben haben. Offensichtlich kannte er sich im Klub bestens aus.
14 Festnahmen nach Attentat
Die Zeitung "Hürriyet" zitiert den türkischen Terror-Experten Abdullah Agar, der Videoaufzeichnungen des Massakers gesehen hatte. Der Attentäter habe keinerlei Skrupel gezeigt und den Eindruck eines "kaltblütigen, professionellen Killers" gemacht, der militärisches Training genossen habe, sagte Agar. "Er hat vermutlich schon in echten Kriegszonen gekämpft."
Falls es seine Absicht war, "Ungläubige" zu töten, so gelang ihm das nicht. Fast alle Opfer sind Muslime, 27 Ausländer, vornehmlich aus dem Nahen Osten. Laut dem Boulevardblatt "Posta" sei der Attentäter nach der Bluttat in die Küche des Reina-Klubs gegangen und habe sich unter andere dutzende Besucher gemischt, die sich dorthin geflüchtet hätten. 13 Minuten habe er in der Küche verbracht, seine Kleidung gewechselt und sei vor Eintreffen der Polizei verschwunden.
So kaltblütig sich der Täter verhielt, Fehler beging er doch. Er ließ seinen Mantel zurück, in dem umgerechnet rund 150 Euro gefunden wurden. Deshalb konnte er vermutlich das Taxi nicht bezahlen, das er sich auf der Straße rief und musste es nach zwei Minuten wieder verlassen. In dieser Zeit telefonierte er zwölf Mal mit dem Handy des Fahrers. Die Gesprächspartner konnten identifiziert werden. 14 Personen wurden laut Polizei bis zum Dienstag festgenommen, darunter die Frau des mutmaßlichen Täters.
Nach dem Anschlag ist in der Türkei eine neue Nachdenklichkeit eingezogen. Das säkular-linksliberale wie das konservativ-islamische Lager sind sich einig, dass das Attentat auf den säkularen Teil der Gesellschaft zielte. Mit der Reina-Disco wurde ein Symbol des hedonistischen, liberalen Lebensstils angegriffen. "Die Terroristen versuchen, eine Polarisierung zwischen den Menschen verschiedener Lebensstile herbeizuführen", sagte Vizepremier Numan Kurtulmus. "Aber sie werden niemals siegen."