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In Kabul zweifelt man an nachhaltiger Wirkung der Aktion des Innenministeriums.
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Kabul. Massum Abdul steht mit halb zusammengekniffenen Augen vor dem Tor seines Hauses in Kabul und versucht auf dem Smartphone, das er in seiner weit von sich gestreckten Hand hält, etwas zu entziffern. "Schlepper lügen", liest er vor. "Das ist richtig!", sagt er, und lächelt kurz. Dann kneift er die Augen wieder zusammen und liest weiter. "Das Asylrecht in Österreich wird nun noch schwieriger", liest er den Text zu Ende, mit dem Österreich in Kabul auf Plakaten vor einer Flucht warnen will.
Abdul schüttelt lange wortlos den Kopf, fährt mit der Hand langsam über seinen langen, weißen Bart. Sein Lächeln verflüchtigt sich, er zieht eine Augenbraue hoch. "Das ist falsch. Wo sollen denn die Menschen hin, die verfolgt werden?" Er deutet, ihm in seinen Garten zu folgen, humpelt voran, schließt das schwere Eisentor, das mit einem lauten Geräusch ins Schloss fällt. Links steht der erste Kirschbaum in voller Blüte, am Boden wachsen die ersten Tulpen aus dem noch vom Winter braunen Boden. Erste Bienen summen durch den Garten, Spatzen pfeifen von den Bäumen und vom Vordach des einstöckigen Lehmhauses. Abdul zieht zwei kleine Holzbänke an einen sonnigen Platz. Als ein Junge Tee eingeschenkt hat, zeigt er mit dem Finger auf das obere Ende der bis zu fünf Meter hohen Mauer, die sein Haus und seinen Garten umgibt. "Der Stacheldraht dort oben ist ganz neu", sagt er. Vor drei Wochen habe er ihn installieren lassen, er läuft die gesamte Mauer entlang.
Angetrieben dazu habe ihn der wochenlange Stromausfall in Kabul, er habe Angst vor Kriminellen gehabt, die die Dunkelheit ausnützen würden. Aber auch die sich rapide verschlechternde Sicherheitslage insgesamt habe ihn dazu veranlasst. "Sehen wir uns doch an, was im vergangenen halben Jahr in diesem Land passiert ist", sagt er, schlägt die Beine übereinander und hält sein Knie mit beiden Händen fest. "Im August kamen an einem Tag bei einem Dreifachanschlag in Kabul fast hundert Menschen um. Im September haben die Taliban Kunduz überrannt. Im Oktober wurden sieben Geiseln von Islamisten geköpft, darunter ein elfjähriges Mädchen. Ende Oktober wurde das Mädchen Rokhshana gesteinigt. Seit Wochen führt die Armee harte Kämpfe in der südlichen Provinz Helmand, musste Gebiete den Taliban überlassen. Im Jänner kämpften die Milizen eines Abgeordneten gegen Daesh - den sogenannten Islamischen Staat (IS) - im Osten des Landes. "Unser Vizepräsident General Dostum kämpft in der Provinz Faryab im Norden auf dem Motorrad gegen Islamisten. Vier Wochen hatten wir hier in Kabul wegen Kämpfen in Baghlan keinen Strom, weil die Regierung die Leitungen nicht reparieren konnte", sagt Abdul.
Gezielte Tötungen
Man könne aber auch nur von den vergangenen paar Tagen sprechen. "Ein schwerer Anschlag mit 15 Toten auf das Verteidigungsministerium in Kabul, eine Magnetbombe mit vier Verletzten in der Hauptstadt, tote Zivilisten bei Gefechten in Kunar, vier Polizisten in Kandahar von einem Kollegen getötet, ein toter Zivilist durch eine Rakete in Pul-i-Khumri, vier tote Kinder bei einem Anschlag in Farah, zwölf Tote bei Zusammenstößen in Sar-i-Pul, dazu soll Daesh ein siebenjähriges Mädchen in zwei Stücke gerissen haben", zählt Abdul ohne Unterlass weiter auf. Eine rote Katze springt ihm auf den Schoß, er krault kurz ihren Nacken, bevor sie sich wieder davonmacht, über einen Baum auf die Mauer hüpft und am Stacheldraht entlangschleicht. Die Fälle, die er aufgezählt hat, seien aber nur jene, die "zufällig" zwischen die Fronten geraten seien. Ein Viertel der Opfer, zitiert Abdul die jüngsten Zahlen der UN-Mission in Afghanistan, würden auf gezielte Tötungen zurückgehen. Diese treffen neben Regierungsbeamten auch Menschen, die für NGOs arbeiten, moderate Prediger, Dorfälteste, die sich öffentlich gegen die Aufständischen aussprechen - oder oft auch nur Menschen, die liberal gesinnt sind.
Abdul hält lange inne. "Die Menschen wollen doch auch irgendwann einmal leben", sagt er schließlich. "Sie werden über diese österreichische Kampagne höchstens lachen, ihr Verhalten wird es nicht ändern. Nicht ein Prozent wird darauf reagieren."
Auch deutsche Plakate
Vor allem die Dunkelheit durch den wochenlangen Stromausfall hat den Menschen in Kabul stark zugesetzt, sie verunsichert und verärgert. Nahe der Kabuler Altstadt sitzt Sarwar Malang in seinem Haus. Es ist halb 6 Uhr abends, der Strom ist erneut ausgefallen. Malang erhellt sein Zimmer mit einer batteriebetriebenen Stehlampe, um wenigstens sein Essen sehen zu können. "Als Ex-Präsident Hamid Karzai an die Macht kam, lag hier alles in Ruinen. Mit ihm kamen die Dollars, es wurden Hochhäuser gebaut. Von den heutigen Führern sehen wir seit fast zwei Jahren nichts", beklagt er. Präsident Ashraf Ghani und der sogenannte Chief Executive Abdullah Abdullah - de facto der Premier - stünden sich gegenseitig im Wege, statt an einem Strang zu ziehen. Bestechungsgelder, die für jeden Schritt im Land fällig seien, hätte man früher in der Landeswährung Afghani bezahlt, heute müsse man die gleiche Summe in Dollar vorstrecken.
Präsident Ghani hatte vor kurzem selbst gesagt, dass 42,5 Prozent der Afghanen mit 1,25 Dollar am Tag auskommen müssten. Weiter arbeiten mehr als sechs Millionen Kinder auf der Straße, um wenige Afghani täglich zum Familieneinkommen beizutragen. 3,5 Millionen Afghanen sind drogensüchtig, das ist ein Zehntel der Bevölkerung. "Und jeder Afghani, der für den Friedensprozess verwendet wird, ist hinausgeschmissenes Geld", sagt Malang. "Zweieinhalb Jahre lang war der Taliban-Führer Mullah Omar schon tot. Wer war dann der Befehlshaber? Wir wissen nicht mal, gegen wen wir kämpfen. Mit wem sollen wir Frieden schließen?"
Malang weiß nicht recht, was er davon halten soll, dass nun so viele Afghanen fliehen. Er selbst könne seiner Heimat nicht den Rücken kehren. Aber auch an ihm seien die Kampagnen in den vergangenen Wochen nicht vorbeigegangen. Lange vor den Österreichern - im November - hat die deutsche Botschaft begonnen, in Kabul mit Plakaten vor der Flucht nach Deutschland zu warnen. Auch die finnische Botschaft in Kabul schaltet in sozialen Medien Anzeigen mit Artikeln, dass nicht jeder, der nach Finnland komme, ein Recht auf Asyl habe und dass Finnland vorhabe, afghanische Asylsuchende zu deportieren. Das Thema Flucht wird in afghanischen Fernsehsendungen ausgiebig debattiert. Vertreter der Regierung versuchen - meist mit patriotischen Argumenten - die Menschen davon zu überzeugen, im Land zu bleiben.
Für die Argumente seiner Regierung hat der 26-jährige Ajmal, der selbst nach Europa fliehen würde, hätte er genügend Geld für die Schlepper, wenig übrig. Er ist Tischlermeister und hat eine Arbeit, aber der Lohn reicht gerade für Essen und sein Mobiltelefon. Ajmal steht auf dem Dach seines Hauses und beobachtet die Nachbarkinder beim Drachenfliegen. Und auch wenn sich der Schnee vom Berg hinter seinem Haus zurückzieht und die Tage wärmer und wieder heller werden, mag sich seine Stimmung nicht bessern. Wie die meisten Menschen in Kabul ist er angespannt, still und nachdenklich. Und auch er zweifelt, gleich wie Abdul, an einem Erfolg der österreichischen Kampagne.
Alle wollen nach Deutschland
"Flüchtende Afghanen werden dem keinen Glauben schenken, bis sie nicht selbst die Erfahrung machen", sagt er. Zumal in seinem Freundeskreis keiner mit dem konkreten Wunsch, nach Österreich zu gehen, aufgebrochen war. Vielmehr wollten und wollen weiterhin praktisch alle nach Deutschland - obwohl sie wissen, dass bereits sehr viele Flüchtlinge in Deutschland sind und die 125 von dort freiwillig zurückgekehrten Afghanen hier in allen Medien waren. "Erst wenn es mit Deutschland nicht klappt, denken die Leute über ein anderes Ziel nach", sagt er. Auch der Hinweis der Österreicher, dass es Asyl nur auf bestimmte Zeit gebe, schrecke kaum ab. "Auch nur ein paar Jahre von hier weg sind doch besser als nichts. Ich könnte eine Ausbildung erhalten und dann zurückkehren. Vielleicht ist bis dahin die schlimme Zeit vorbei."