Zum Hauptinhalt springen

"Sie werden uns töten"

Von Siobhán Geets und Michael Schmölzer

Politik

Die UNO warnt vor einem Massaker an Zivilisten in Aleppo. Die Menschen fürchten die blutige Rache der Sieger.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien/Damaskus. Ahmad macht sich Sorgen. Es ist jetzt etwas mehr als ein Tag vergangen, seit er das letzte Mal mit Faten telefoniert hat. Die 26-Jährige ist im Osten Aleppos eingekesselt - jenem winzigen Teil der Stadt, der am Dienstagnachmittag noch von den Rebellen gehalten wurde. Ahmad versucht noch einmal, Faten über WhatsApp anzurufen. Es klingelt. Nichts passiert. Das kam schon öfter vor - manchmal vergehen zwei Tage, bis Faten sich meldet.

Ahmad hofft, dass es auch diesmal so ist, er hofft, dass Faten einfach der Akku ausgegangen ist. Strom gibt es keinen, die Menschen sind schon lange auf Generatoren angewiesen. "Gestern meinte sie noch, es gebe kein Essen mehr", sagt Ahmad, der selbst im Sommer 2015 nach Österreich kam.

Zuvor hatte er in Aleppo Ingenieurwissenschaften studiert. An der Uni lernte er auch jene junge Frau kennen, um deren Leben er nun zittert. Sie habe Geld, sagte Faten, aber es gebe nichts mehr zu kaufen. Mittlerweile verbrennen die Menschen ihre Möbel, um nicht zu frieren, in ihrer Verzweiflung rupfen sie Gras von der Wiese und kochen es für die Kinder. Nichts gelangt mehr in die Stadt hinein, die Nachschubroute Richtung Türkei ist schon lange blockiert. Doch der Hunger, sagt Ahmad, sei nicht einmal das Schlimmste. "Die Menschen werden nicht verhungern. Sie werden erschossen." Kapitulation sei auch für Zivilisten keine Option. Wer sich ergibt, werde gefangen genommen und ermordet.

Jeder Tag der letzte

Vor einer Woche starb Fatens Neffe durch eine Bombe. "Manchmal", sagt Ahmad, "klingt sie ganz normal, sie lacht, während sie die schlimmsten Dinge erzählt." Etwa, dass sie jeden Tag mit dem Gedanken erwacht, heute zu sterben. Dass es auch besser so wäre. Besser sterben als so zu leben. Besser sterben als dabei zuzusehen, wie die eigene Familie getötet wird.

Seit die Armee Bashar al-Assads und seine Verbündeten in die Rebellengebiete Aleppos einmarschiert sind, geht Faten nicht mehr ohne Messer aus dem Haus, sagt Ahmad. Sie habe Angst, vergewaltigt zu werden - von Soldaten der iranischen Miliz, die, unterstützt durch russische Luftangriffe, die Rebellengebiete Stück für Stück einnahmen. "Die Schiitenmiliz ist wie der IS, auch sie glauben an das Märtyrerparadies."

Telefonate mit Verbliebenen und kurze Videos sind die einzigen Zeugen dessen, was derzeit in Aleppo geschieht. "Bitte helft uns", fleht eine Frau in einer Tonaufzeichnung, im Hintergrund quengelt ein Kind. "Die Truppen sind auf der Straße, sie werden uns töten."

Laut Schätzungen befanden sich noch rund 100.000 Menschen in dem bis noch vor kurzem von den Rebellen gehaltenen Viertel. Oft verstecken sich hunderte in einem Gebäude. Wird es getroffen, sind die Überlebenden im Schutt begraben. Im Stadtteil Bustan al-Kassar wurden am Montag laut UN mindestens 82 Zivilisten erschossen. In al-Kalasa waren es 150, behauptet Ahmed. Die Leichen seien verbrannt worden. Auch das letzte verbleibende Krankenhaus wurde laut Ahemd angegriffen, Ärzte und Krankenschwestern seien ermordet worden.

Die UNO warnt vor einer humanitären Katastrophe, die Rede ist von einem "völligen Zusammenbruch der Menschlichkeit". Es wird befürchtet, dass die Sieger Rache an den tausenden Zivilisten nehmen, die sich in den bis vor kurzem von den Rebellen kontrollierten Gebieten befinden. Assad-Gegner rufen Washington und Ankara zur Rettung von Kindern auf, die Türkei zeigt sich schockiert und will mit Russland über die Errichtung eines Korridors zur Evakuierung der Notleidenden reden. An Appellen mangelt es nicht, auch von höchster Stelle: Die Lage "bricht einem das Herz", meinte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande richtete ein "humanitäres Ultimatum" an die Verantwortlichen.

Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt eindringlich, der Krieg in Syrien sei nach dem Fall von Aleppo keinesfalls beendet.

In der Tat gehen Beobachter davon aus, dass sich das Drama nur rund 50 Kilometer weiter südlich, in der Provinz Idlib, wiederholen wird. Die Metropole hat rund 160.000 Einwohner und ist immer noch in Händen einer Rebellenallianz. Es scheint ziemlich sicher, dass die in Aleppo siegreichen Assad-Truppen versuchen werden, ihren Erfolg dort zu wiederholen.

Der Syrien-Experte des österreichischen Bundesheeres Walter Posch spricht von einem "blutigen Kampf Mann gegen Mann", der der Stadt drohe. Machthaber Assad muss auch Idlib einnehmen, wenn er den strategisch wichtigen Westen des Landes komplett kontrollieren will.

Abzug der Rebellen aus Aleppo

Am Dienstag-Abend hatten die Regierungstruppen dann die vollständige Kontrolle über Ost-Aleppo erlangt. Die Rebellen in Ost-Aleppo haben sich nach eigenen Angaben mit dem syrischen Regime auf einen Abzug aus der Stadt geeinigt. Zivilisten und einige Kämpfer dürften die Rebellengebiete verlassen, sagte ein Sprecher einer Rebellengruppe der Deutschen Nachrichtenagentur dpa.

"Was man in den Medien sieht, ist nichts im Vergleich dazu, was hier tatsächlich geschieht", sagt ein syrischer Journalist in einer Videobotschaft via Twitter. "Niemand interessiert sich für uns." So wachsen auch Zorn und Verzweiflung jener, die es in Sicherheit geschafft haben. "Die Verbliebenen in Aleppo fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft verraten", sagt Ahmad. Er hat die Zerstörung in Aleppo selbst erlebt. Jetzt ist es viel schlimmer. Als Nächstes, da ist sich auch der 27-Jährige sicher, ist Idlib an der Reihe.