Am 70. Jahrestag der Niederringung Nazi-Deutschlands will Moskau militärischer Stärke zeigen.
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Moskau. Bescheidene Zurückhaltung hat in Russland, was die Zurschaustellung militärischer Macht betrifft, keine allzu große Tradition. Und in diesem Jahr erst recht nicht: Am 9. Mai jährt sich der Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland zum 70. Mal. Für Präsident Wladimir Putin bietet der runde Jahrestag einen willkommenen Anlass, am "Djen Pobjedy", dem "Tag des Sieges", zu klotzen statt zu kleckern: Und also findet am Samstag auf Moskaus Straßen die größte Parade seit dem Zerfall der Sowjetunion statt. 16.000 russische Soldaten marschieren und 143 Flugzeuge und Hubschrauber fliegen über den Roten Platz. Auch insgesamt 1300 Soldaten aus dem Ausland werden durch Moskaus Zentrum paradieren.
Der Aufmarsch dient dabei nicht nur dem historischen Gedenken. Auf der Parade soll auch Russlands militärische Stärke demonstriert werden. So präsentiert Moskau am Samstag erstmals den neuen High-Tech-Panzer T-14, genannt "Armata". Das 55-Tonnen-Ungetüm verfügt über einen ferngesteuerten Turm und ist wendiger als viele westliche Modelle. Es ist der erste neu entwickelte russische Panzer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991.
Bei der Gästeliste muss Putin allerdings Abstriche machen: Konnte der russische Präsident beim 60-Jahres-Jubiläum vor zehn Jahren noch westliche Staatschefs wie US-Präsident George W. Bush begrüßen, so bleiben in diesem Jahr aufgrund der Spannungen wegen des Krieges in der Ukraine viele Gäste fern. So wird etwa Deutschlands Kanzlerin Merkel erst am 10. Mai nach Moskau kommen, um einen Kranz niederzulegen. Auch Österreichs Staatsspitze kommt nicht. Besonders störrisch erwiesen sich für Moskau wie stets die baltischen Staaten, Polen und Rumänien, deren Staats- und Regierungschefs schon frühzeitig absagten.
Omnipräsente Erinnerung
Statt der westlichen Gäste kann Putin aber einen prominenten Staatsgast aus Asien begrüßen: Chinas Staatspräsident Xi Jinping, den er "meinen persönlichen großen Freund" nennt. Xi wird in Moskau nicht nur russische, sondern auch seine eigenen Soldaten bewundern können: Eine Einheit der Volksbefreiungsarmee wird ebenfalls über den Roten Platz marschieren.
Der "Djen Pobjedy" gehört in Russland zu den wichtigsten Feiertagen. Eine Umfrage des Levada-Instituts in Moskau hat ergeben, dass den Russen der Gedenktag an den Sieg im Zweiten Weltkrieg mittlerweile sogar ebenso wichtig ist wie der eigene Geburtstag. Die Popularität des 9. Mai steigt seit dem Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Gerade jetzt, im Konflikt mit dem Westen um die Ukraine, bietet sich die Erzählung vom antifaschistischen Abwehrkampf an: Der Kampf der befreundeten Separatisten im Donbass gegen die "faschistische" Regierung in Kiew, ihre teils rechtsextremen Bataillone und westlichen Unterstützer steht für viele Russen in der Tradition des Zweiten Weltkriegs.
Die Erinnerung an den großen Opfergang, der seitens der Sowjetunion schätzungsweise 27 Millionen Opfer forderte, ist in Russland, aber auch in Weißrussland immer noch omnipräsent. Mosaike oder Statuen, die entrückte Kämpfer zeigen, sind auch in kleineren Städten zu finden. Im weißrussischen Brest erinnert ein 35 Meter hoher, grimmig-entschlossen blickender Soldatenkopf an die Verteidigung der Grenzfestung im Jahr 1941. Im "Museum des Großen Vaterländischen Krieges" in Moskau - der von Stalin geprägte Begriff sollte an den "Vaterländischen Krieg" gegen Napoleon erinnern - bekommt der Besucher dreidimensionale Schlachtenbilder geboten. Aber auch Erzählungen von den unfassbaren Leiden der hungernden Zivilbevölkerung im zerschossenen Stalingrad sind präsent, von der jahrelangen Blockade St. Petersburgs, die im damaligen Leningrad unzählige Todesopfer auch unter Frauen und Kindern forderte - unter anderem Putins älteren Bruder Wiktor.
Dem vierjährigen Leiden wurde schließlich durch den Sieg Sinn verliehen. Die gemeinsame Kraftanstrengung nutzte auch der sowjetischen Staatsführung: Die vorher im Volk unbeliebten, aber aufgrund ihres Terrors gefürchteten Bolschewiki setzten nun auf die Erinnerung an die gemeinsam durchgestandenen Leiden, an die Heldentaten im "Großen Vaterländischen Krieg". Die Museen vermittelten - besonders nachdem man den "Sieger" Stalin entsorgen musste - das Bild des heldenhaften Volkskrieges.
Dieses Konzept stößt in Osteuropa nicht überall auf Gegenliebe. Vor allem Polen, der traditionelle Gegenspieler Russlands, zeigt wenig Lust, sich auf die russische Sicht einzulassen. Zu tief sitzen die Wunden, etwa das Massaker von Katyn an rund 20.000 polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD. Oder der Umstand, dass 1939 neben Deutschland auch die Sowjetunion Polen überfallen hatte. Und überhaupt: Der Kampf zwischen Hitler und Stalin, so viele Polen, sei doch eigentlich einer zwischen zwei verwandten, totalitären, wesensähnlichen Systemen gewesen. Die These, im Westen vielerorts abgelehnt, findet in den postsowjetischen Ländern, die vom Kommunismus bedeutend länger als vom Nazismus heimgesucht wurden, genug Anhänger.
Entzauberter Mythos
Mit Bogdan Musial war es dann auch ein polnischer Historiker, der in einer Buchveröffentlichung den Mythos vom Volkskrieg der geeinten Partisanen entzauberte. Nach seinem Befund kam es in den von den Deutschen eroberten Sowjet-Gebieten zunächst zu bereitwilliger Kooperation mit den neuen Machthabern. Kein Wunder: Zwangskollektivierung, Hungersnöte und Repressionswellen während der Dreißiger Jahre hatten die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Deutschen gesteigert. 1941 hatte sich sich der Widerstand noch aus entkommenen oder geflohenen Sowjet-Soldaten zusammengesetzt, die in den Wäldern umherirrten und auf der Suche nach Essbarem Bauern überfielen. Von diesen wurden sie meist an die Deutschen verraten.
Erst als diese den im Laufe des Jahres 1942 aufkommenden Widerstand mit Einschüchterung der Bevölkerung und vermehrtem Terror beantworteten, eskalierte die Situation. Sicherungsbataillone versuchten mit einer Politik der "verbrannten Erde", der Partisanen Herr zu werden: Ganze Landstriche wurden verwüstet, Dörfer niedergebrannt, die Bewohner getötet oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Als Beispiel dafür dient bis heute das Schicksal des weißrussischen Dorfes Chatyn.
Ein einziger Mann, der Dorfschmied, hatte die Exekutionen unter einem Leichenhaufen liegend überlebt. Dass unter hunderten Ortschaften in der Sowjetzeit ausgerechnet Chatyn für eine Gedenkstätte ausgewählt wurde, gab Anlass zu Spekulationen, man wolle damit vom ganz ähnlich klingenden Katyn und dem dortigen Massaker an den Polen ablenken. Das Morden in Chatyn hatte übrigens die SS-Division "Galizien" verübt - eine 1943 aus Ukrainern zusammengestellte Truppe unter deutschem Kommando, die auch Juden ermordete.
Während die sowjetischen Partisanen mit der Roten Armee immerhin eine konkrete Siegesperspektive besaßen, kämpften andere Gruppen im Untergrund mit wenig Hoffnung auf eigene Rechnung: so etwa die polnischen Partisanen, die sich gegenüber den sowjetischen Kollegen reserviert zeigten und sie fallweise auch bekriegten. Die Ukrainer kämpften überhaupt gegen Deutsche, Sowjets und Polen. Auch jüdische Partisanengruppen gab es.
Alle gegen alle
Das Gesicht dieses Krieges aller gegen alle unter dem Druck einer erbarmungslosen Besatzungsmacht muss schrecklich gewesen sein. In Weißrussland war am Ende des Gemetzels ein Drittel aller Einwohner tot. Die Bevölkerung geriet oft genug zwischen die Fronten und war den lokalen Warlords so schutzlos ausgeliefert wie den Racheaktionen der Deutschen und ihrer Kollaborateure. Es kam zu grotesken Fällen: So wurden etwa jüdische Flüchtlinge von Partisanengruppen als "Spione der Deutschen" erschossen.
Als Symbol des Schreckens jener Tage bietet sich daher weniger der Heldenkopf von Brest als das Mahnmal von Chatyn an: Die Bronzefigur des überlebenden Dorfschmieds hält in leidender Anklage den toten Sohn in Händen. Ganz so, als wollte er fragen: Warum?