Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Die Urbanisierung ist nicht nur ein Antikörper der Globalisierung, sondern auch deren Virus.
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Wenn Bürgermeister die Welt regieren könnten, wäre vieles besser - meint Benjamin Barber in seinem neuen Buch "If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities". Und tatsächlich, überall erheben sich Städte zu altem Glanz und Einfluss. Barber verdeutlicht den Wandel globaler Politik von der Vorherrschaft des Staates zur Stadt, von staatlicher Unabhängigkeit zu wechselseitiger Abhängigkeit, von Ideologie zu pragmatischer Problemlösung.
Die Entwicklung von Städten, häufig älter als der Staat, in dem sie sich befinden, zu selbstbewussten und vernetzten Akteuren auf dem internationalen Parkett gibt Barbers Wunsch nach urbanem Pragmatismus recht. Die Bekämpfung von Klimawandel und Armut etwa wird vor allem durch Kooperationen zwischen willigen Städten auf der ganzen Welt vorangetragen, und manch eine Stadt weist eine größere Wirtschaftsleistung auf als Staaten.
Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, in Industrienationen fast 80 Prozent. Bis 2030 werden es mehr als fünf Milliarden Menschen sein. Wir mögen zu einer "urbanen Spezies" geworden sein, für die Stadtluft noch immer frei macht. Die Stadt mag als Impulsgeber für die Zukunft fungieren und die beste aller Chancen bieten, für die, die dorthin strömen (müssen).
Die Urbanisierung - Verstädterung - ist aber nicht nur ein Antikörper der Globalisierung, sondern auch deren Virus. Die Globalisierung und die Urbanisierung als "Megatrends" im 21. Jahrhundert haben auch ihre Schattenseiten. Gezielte soziale Manipulation hat in vielen Städten zu Ghettobildung und zur "Verräumlichung" sozialer Probleme geführt, gewalttätige Auseinandersetzungen stehen auf der Tagesordnung.
Der Tahrir-Platz in Kairo ist zwar zum Symbol einer Bewegung von unten geworden. Die Straße, der öffentliche Platz, hat vielerorts die Rolle als Ort der Meinungsbildung und Durchsetzung übernommen. Wie einst der Begriff "Boulevard" für bürgerliche Rituale stand, steht heute der Begriff "Straße" aber nicht nur für Modernisierung und Veränderung, sondern auch für die Popularisierung von Gewalt.
Hartnäckig symbolisiert die vibrierende City, die "niemals schläft", den Fortschrittsglauben der Menschheit. Städte haben sich ohne ursprünglichen Plan und Absicht zu Weltmetropolen entwickelt. Städte gehen finanziell unter. Städte versinken in Kriminalität, um aus ihrer eigenen Asche wieder aufzuerstehen. Städte wurden auf dem Reisbrett neu entworfen oder waren überhaupt nicht geplant.
Niemals jedoch scheinen sie ihre Attraktivität zu verlieren, nicht für Zuwanderer und schon gar nicht als Experimentierfeld für politische Ideen und gesellschaftliche Umbrüche. Städte, nicht zerfallende Staaten, mögen unsere Zukunft bestimmen.
Die vergleichsweise harmlosen Eskapaden des Bürgermeisters von Toronto, Rob Ford, oder der Gesundheitswahn des früheren New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg gehören jedoch ebenso zum Siegeszug der pragmatischen Stadt wie Parallelgesellschaften, Gewalt, triste Vororte, Slums und urbane Kriegsführung.