Bei einem Scheitern der Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der EU würde Premier Johnson die Zukunft seines Landes aufs Spiel setzen. Beobachter stellen sich die Frage, ob der berühmte britische Pragmatismus abgedankt hat.
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Wird es am Ende des Tages ein Handelsabkommen der EU mit Großbritannien geben oder nicht? Ein EU-Diplomat zieht bereits massiv in Zweifel, dass es noch zu einem Happy End kommt: Den Briten sei es seit Beginn der Verhandlungen nur darum gegangen, die Union zu spalten, sagt er gegenüber der "Wiener Zeitung". Man mache sich in Brüssel auf einen "No Deal" und eine Trennung im Unfrieden gefasst.
Auch Großbritannien trifft Vorbereitungen für den Notfall. So hat die Regierung Millionen-Pfund-Aufträge an mehrere Fährunternehmen vergeben, um auf diesem Weg Medikamente und andere wichtige Güter auf die Insel schaffen zu können. Man wolle Probleme vermeiden, "wie auch immer die Verhandlungen mit der EU ausgehen", erklärt die britische Transportbehörde.
Verhandlungen in einer "kritischen Phase"
Der Weg wird immer steiler und steiniger, zumal sich Brüssel nicht mehr sicher sein kann, ob Premier Boris Johnson überhaupt paktfähig ist. Der Tory bricht bewusst Vereinbarungen, die im Austrittsprotokoll mit der EU fixiert sind, um eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs zu vermeiden. Eine Wiedervereinigung Irlands, so Landon, darf es unter keinen Umständen geben.
Der kommende Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag wird sich mit dem Brexit befassen. Im Vorfeld hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Europaminister über den Stand der Verhandlungen informiert: Demnach reichen die Fortschritte, die bisher in den Gesprächen mit den "britischen Freunden" erzielt wurden, nicht aus. Die EU, die in der Frage selten einig dasteht, werde in den kommenden Tagen und Wochen weiter für einen "fairen Deal" arbeiten. Man sei jetzt in einer "äußerst kritischen Phase", betonte der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth: "Die Zeit läuft aus."
Der britische Premier drückt ebenfalls aufs Tempo, er hat der EU eine Frist bis Donnerstag gesetzt, dann müsse ein Abkommen stehen. Aus Sicht der EU reicht eine Einigung bis zum 31. Oktober. Erst dann müsse alles unter Dach und Fach sein, damit der Vertrag rechtzeitig zu Jahresbeginn in Kraft gesetzt werden kann.
Dass es zu einer Einigung bis Donnerstag kommt, ist ausgeschlossen, ein Ergebnis zum 31. Oktober gilt als unwahrscheinlich.
Noch will keine der beiden Seiten die Türe zuschlagen, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Ein "No Deal", da sind sich Wirtschaftsforscher einig, wäre für die EU schmerzhaft, für Großbritannien aber ein Desaster. Johnson könnte versuchen, die Effekte auf die Corona-Krise zu schieben, doch das wäre zynisch und würde an den bitteren Folgen für den britischen Handel nichts ändern.
Paris fordert strenge Sanktionsmöglichkeiten
Deshalb zeigt man sich in London optimistisch: Es gäbe Raum und Aussicht auf eine Einigung, meinte der britische Außenminister Dominic Raab am Dienstag. Auch die EU wünscht sich einen Deal, "aber nicht zu jedem Preis", wie EU-Ratspräsident Charles Michel betont. "Wir brauchen noch etwas mehr vom Vereinigten Königreich", formuliert es ein EU-Diplomat.
Beide Seiten fordern von der jeweils anderen Bewegung und mahnen zur Eile - doch noch bewegt sich nicht viel. Zuletzt habe es eine Annäherung im Bereich der gegenseitigen Anerkennung bei sozialversicherungspflichtigen Leistungen gegeben, sagen Diplomaten. Doch das alleine macht noch keinen Frühling.
Vor allem in den Bereichen Fischerei und Wettbewerbsbedingungen spießt es sich gewaltig. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert hier strenge Durchsetzungsbefugnisse. Es müsse nach Abschluss eines Abkommens sichergestellt sein, dass es gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische und britische Unternehmen gebe und im Fall von Verstößen schnelle Vergeltungsmaßnahmen möglich wären. Damit müssten die Briten in vielen Bereichen EU-Regeln beibehalten, was die Brexiteers in London nicht wollen.
Im Bereich Fischerei ist weiter unklar, welches Land unter welchen Bedingungen in britischen Gewässern seine Netze auswerfen darf.
Unberechenbarkeit ist Johnsons Trumpf
Stellt sich die Frage, welche Strategie die Briten verfolgen. Johnson gilt als unberechenbar - das heißt, die EU kann sich nicht sicher sein, ob er nicht doch einen "No Deal" in Kauf nimmt. Es ist nicht klar, ob die Regierung in London vielleicht doch ihre Brexit-Ideologie über den legendären britischen Pragmatismus stellt.
Das versetzt Johnson in die Lage, eine Drohkulisse aufbauen zu können - etwa eine Einigung bis zum 15. Oktober zu verlangen und ein mögliches Scheitern der Verhandlungen zu prophezeien. Die Europäische Union sitzt dank ihrer wirtschaftlichen Stärke zwar am längeren Hebel, doch das ist nur bedingt ein Vorteil, wenn das den Verhandlungspartner scheinbar nicht kümmert.
Soll es doch noch zu einer Einigung kommen, müssen beide Seiten aufeinander zugehen. Ein Kompromiss wäre im beiderseitigen Interesse, ein fehlendes Handelsabkommen käme auch für die Europäische Union einer Niederlage gleich. Weit schmerzhafter wäre das für die Briten, wobei Johnson mit seinem Pokerspiel auch die Einheit des Landes aufs Spiel setzt. Gibt es kein Abkommen mit der Europäischen Union, wird Schottland mehr denn je nach staatlicher Eigenständigkeit streben.