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Sigmar Gabriel: Mehr Geld als in wildesten linken Träumen

Von Walter Hämmerle

Politik
Der langjährige SPD-Chef Sigmar Gabriel war zu Gast beim Europäischen Forum Alpbach.
© NLK Burchhart

Der deutsche Ex-Vizekanzler und -SPD-Chef über die Lage der EU und die Zeit nach Merkel.


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Acht Jahre, von 2009 bis 2017, stand Sigmar Gabriel an der Spitze der SPD. Der 60-Jährige war Ministerpräsident von Niedersachsen, erst Umwelt-, dann Wirtschaftsminister sowie Vizekanzler in einer Koalition mit der CDU/CSU unter Angela Merkel. Gabriel scheute keine Debatte, heute kritisiert er oft und gerne den Kurs der SPD-Linken. Selbst ins Visier geriet der Buchautor und Berater wegen eines Beratermandats beim Fleischkonzern Tönnies, der wegen eines Corona-Clusters und mieser Arbeitsverträge in den Schlagzeilen war. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Gabriel im Rahmen des 20. Europafrühstücks, das auf Einladung von Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner in Alpbach stattfand.

"Wiener Zeitung": Die erfolgreiche Digitalisierung wird über die künftige Verteilung von Einfluss und Wohlstand entscheiden. Europa hinkt hier den USA und China deutlich hinterher. Haben Sie ein Rezept, damit Europa auf diesem Gebiet aufholen kann?Sigmar Gabriel: Dazu nur eine Zahl, die das Problem auf den Punkt bringt: China will bis 2025 allein auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz 150 Milliarden US-Dollar in die Hand nehmen; Deutschland begnügt sich mit sechs und die EU investiert weitere sechs Milliarden US-Dollar. Unsere Probleme beim Ausbau von G5 hängen damit zusammen, dass in Deutschland die Balance verloren gegangen ist zwischen den Einspruchrechten der Betroffenen und der Durchsetzung des Gemeinwohls. Und die ganz große Frage ist, auf welches Datenvolumen Unternehmen überhaupt zurückgreifen können.

Was meinen Sie damit?

China verfügt über 1,4 Milliarden Einwohner, die fast alle eine Sprache sprechen, und über keinen Datenschutz. Die USA haben 330 Millionen Einwohner, eine Sprache und eine Kultur sowie ein Datenschutzverständnis, das sich von dem in Europa maßgeblich unterscheidet. In der EU leben 450 Millionen Menschen, aber wir sind kulturell und sprachlich heterogen; und wir haben trotz der Datenschutzgrundverordnung immer noch keinen Konsens, wie wir mit Daten umgehen sollen. Wir dürfen auf keinen Fall das Recht auf Privatheit aufgeben, weil in der regulatorischen Durchsetzung dieses Rechts ein großer Vorteil besteht, aber Deutschlands Datenschutzkonzept besteht darin, möglichst wenig Daten freizugeben, die Datenmengen also zu minimieren. Das ist jedoch das Gegenteil des Geschäftsmodells von Big Data; und ich weiß auch nicht, wie man autonomes Fahren umsetzen will, wenn nicht sicher ist, dass alle Daten, die ein Auto produziert, in Echtzeit zur Verfügung stehen.

Also weniger Datenschutz als Lösung?

Nein, aber wir müssen in Europa noch einmal nachdenken, wie wir mit Daten und Datenschutz umgehen. Was wir brauchen, ist Datensouveränität, dass also die Bürger entscheiden können, welche Daten sie freigeben. Estland ist hier in Europa ein Vorreiter, an dem wir uns orientieren sollten. Vor allem aber müssen wir dafür sorgen, dass wir auch die Infrastruktur haben, dass die Daten auch fließen können.

Welche langfristigen Folgen wird die Pandemie wirtschaftlich haben?

Deutschland wie auch Österreich werden wohl relativ gut aus dieser Krise herauskommen, weil beide über eine starke Wirtschaft verfügen. Darüber kann man sich freuen, aber dies wird in Europa wieder neue Spannungen hervorrufen. Von daher ist die Einigung auf das 1,8 Billionen Euro schwere EU-Finanzpaket richtig und wichtig. Aber wir tun im Moment so, als ob der Staat alles kann. In Deutschland geben wir das Geld mit beiden Händen aus. Ich bin ja Sozialdemokrat und ich weiß, dass sich die linkesten Träumer meiner Partei in ihren wildesten Träumen nicht ausmalen konnten, wie viel Geld der Staat jetzt ausgibt. Wir sollten deshalb wenigstens schauen, dass wir es nicht nur für den Erhalt des Bestehenden ausgeben, sondern damit auch den notwendigen Wandel unterstützen. Ein zentraler Bereich ist hier der Ausbau der Infrastruktur, vor allem der digitalen, aber nicht nur.

Im Herbst 2021 wählt Deutschland, Kanzlerin Angela Merkel tritt dann nach 16 Jahren ab. Wie wird Deutschland sich als Land verändern?

Ich habe natürlich keine Glaskugel, aber ich sage Ihnen, warum ich optimistisch bin. In Deutschland wurden die Nachfolger erfolgreicher Kanzler stets von den Medien und Gegner heruntergemacht und verspottet. Das galt für Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder, die trotzdem alle große Kanzler wurden. Merkel wurde als "Kohls Mädchen" lächerlich gemacht, keiner in CDU/CSU traute ihr etwas zu. Was ich damit sagen will, ist: Aufgaben suchen sich die Personen, die sie lösen, nicht umgekehrt.

Und was heißt das für Deutschland?

Nach Merkel gibt es jetzt die Sehnsucht nach mehr Führung. Das ist einer der Gründe, warum Friedrich Merz in der Partei und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in ganz Deutschland sehr populär sind. Das Problem von CDU und CSU ist, dass sie jetzt zum ersten Mal nicht in der Lage scheinen, sich auf einen Kandidaten zu verständigen. Das halte ich für eine große Gefahr für die Union. Es wird jetzt gerne vergessen, dass die Union vor Corona nur bei 26 Prozent lag, ein katastrophaler Wert. Das Problem ist also weniger, wer als Kanzlerkandidat für die Konservativen antritt, sondern dass sich die Union auf dem Weg dahin so zerlegt, wie es eigentlich sonst immer den Sozialdemokraten widerfährt. Der Unterschied zwischen Linken und Konservativen ist ja der, dass die Konservativen regieren, die Linken jedoch recht haben wollen. Deshalb regieren die Konservativen auch immer länger als wir.

Kann die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten, Finanzminister Olaf Scholz, aus dem Tief finden? Und sind die Steuererhöhungen, die er für Besserverdiener fordert, das richtige Rezept?

Scholz macht das, weil er in die Hand einer linken Parteiführung ist. Er hat die Wahl um die SPD-Führung verloren, und das neue linke Führungsduo hat sie nicht gewonnen, weil die Hälfte der SPD-Mitglieder gar nicht mitgemacht hat. Das führt dazu, dass der eigentliche Matador der SPD Kevin Kühnert ist. Als Sozialdemokrat wundere ich mich schon, dass einer, der mit 30 Jahren sein Studium nicht abgeschlossen hat, Anspruch auf die Führung der Arbeitnehmerpartei SPD erhebt. Und zu den Steuern: Wer glaubt, dass die SPD mit Steuererhöhungen Wahlkampf machen kann, der erliegt einer Illusion. Die Menschen, die uns wählen, ahnen, dass es sie dabei früher oder später auch treffen wird. Die Leute wollen jetzt Sicherheit für ihre Jobs und keine Philosophie über Steuerpolitik.

Soll die SPD erneut als Juniorpartner in eine Koalition mit der Union gehen oder wäre das selbstzerstörerisch?

Ja, das wäre es, aber der Weg in die Opposition bringt auch nicht die Selbsterneuerung. Falls das doch wer glaubt, der soll sich den traurigen Zustand der bayrischen SPD anschauen, die seit Jahrzehnten in Opposition ist. Ich wünsche mir für Deutschland keine weitere große Koalition, weil das die politischen Ränder erodieren lässt. Aber wer bereits vor Wahlen die Opposition anstrebt oder die Koalition mit einer demokratischen Partei ausschließt, der verliert da schon einen Teil der Wähler, weil die im Zweifel immer wollen, dass ihre Partei regiert. Ich rechne aber ohnehin nicht damit, dass es wieder zu Schwarz-Rot kommt.

Ist eine Linkskoalition mit Grünen und Linkspartei eine Option für die SPD?

Das wäre nicht sehr populär, deshalb wird eine solche Linkskoalition eher nicht kommen, ich würde sie aber vor der Wahl als SPD auch nicht ausschließen. Und das, obwohl die Linkspartei im Westen vor allem aus SPD-Hassern besteht. Im Osten besteht sie heute vor allem aus Leuten, die man als konservative und pragmatische Sozialdemokraten bezeichnen kann, die regieren wollen.

Ist mit der gemeinsamen Haftung für Teile des EU-Finanzpakets der Weg in einer Schuldenunion beschritten?

Das glaube ich nicht. Ich bin zwar grundsätzlich für eine Vergemeinschaftung der Schulden, aber nur unter den Bedingungen, die Wolfgang Schäuble einmal formuliert hat: Dass ein EU-Finanzminister dafür sorgt, dass nicht die einen das Geld erwirtschaften und die anderen es ausgeben. Ich bin deshalb dafür, weil das für mich eine wichtige Frage der wirtschaftlichen Souveränität Europas gegenüber den USA und dem Dollar ist. Der Euro ist weit weg davon, eine globale Reservewährung zu sein; und er wird es so lange nicht sein, wie internationale Anleger ihr Geld nicht in Euro anlegen. Das werden sie aber erst tun, wenn die EU-Staaten gemeinsam für den Euro haften. Und dafür wäre es notwendig, dass das nationale Budgetrecht stark eingeschränkt wird. Genau das fordert etwa Frankreichs Staatspräsident Macron. Ich frage mich nur, ob das französische Parlament es akzeptieren würde, wenn ein EU-Finanzminister - womöglich noch aus Deutschland - sagen würde: "Ihr dürft nicht so viele Schulden machen."

Bundeskanzler Kurz gilt den einen als Blender und anderen als einflussreicher Akteur in der EU. Wie bewerten Sie seine Rolle?

Mir ist es lieber, europäische Streitfragen über Sebastian Kurz zu diskutieren als über Viktor Orban. Kurz hat eine präzise politische Haltung, mit der man nicht übereinstimmen muss, aber man kann auch nicht darüber hinweggehen. Österreich hat die Chance auf eine wichtige Rolle, wenn es gelingt, Brücken zwischen Ost und West, Nord und Süd zu schlagen. Aus meiner Sicht hat Kurz ein ordentliches Standing in Europa. Heilsbringer gibt es allerdings keine in der Politik.