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"Silver Bullet" oder reiner Aktionismus?

Von Alfred Schuch

Gastkommentare
Alfred Schuch hat bis vor kurzem ein Pipeline-Projekt durchs Kaspische Meer in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission beraten. Davor war er unter anderem für die Österreichische Energieagentur sowie die E-Control tätig, auch auf EU-Ebene, und hat als Abteilungsleiter der Hydrocarbons Unit mitgeholfen, das Sekretariat der Energiegemeinschaft in einem multikulturellen Umfeld zum Laufen zu bringen.
© privat

Die geplante gemeinsame Erdgasbeschaffung der EU wirft einige wichtige Fragen auf.


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Aufgrund der sehr hohen Erdgas-, der daraus indirekt resultierenden, kaum leistbaren Strompreise und der damit zusammenhängenden Auswirkungen auf die Inflation als auch Belastung für die Bevölkerung will die EU die Erdgasbeschaffung künftig gemeinsam durchführen. Mit Verweis auf die starke Verhandlungsmacht gegenüber den Anbietern hofft man, neben anderen Vorteilen, vor allem auf Preissenkungen. Beispielhaft wird auf die gemeinsame Beschaffung der Covid-Impfstoffe verwiesen, wobei hier allerdings nicht in Vergessenheit geraten sollte, dass die Vorteile des gemeinsamen Einkaufs dort am Anfang nicht zum Vorschein kamen - im Gegenteil war der Weg mehr als holprig - und die beiden Beschaffungen nicht unbedingt vergleichbar sind.

Ist die geplante gemeinsame Gasbeschaffung also eine "Silver Bullet" oder handelt es sich um reinen Aktionismus von Politikern, die durch hohe Preise und die daraus folgenden negativen Auswirkungen als Getriebene zum Handeln gezwungen sind? Bei der Umsetzung stellen sich mehrere Fragen:

Wer beschafft das Erdgas und zu welchen Bedingungen? Falls Energieunternehmen zur Beschaffung verpflichtet werden, ergibt sich auf europäischer Ebene ein enormer, sehr zeitaufwendiger Koordinierungsbedarf - insbesondere im Hinblick auf die Führung der Geschäfte und Verantwortlichkeiten. Falls die EU-Kommission selbst oder eine ausgelagerte Agentur den Einkauf durchführen soll, stellt sich die Frage der Verfügbarkeit von Experten in diesem Bereich, die eventuell erforderliche Erstellung von Sicherheiten gegenüber den Erdgaslieferanten, die Stückelung der Lieferverträge hinsichtlich Menge und Lieferzeitpunkten, das Hedgen dieser Verträge - um nur einige Aufgaben zu nennen.

Falls es gelingen sollte, diese Hürden rechtzeitig zu überwinden - Zeit- und Erfolgsdruck sind enorm und werden noch stärker werden -, stellt sich die Frage der Funktionsweise. Wird die gemeinsame Beschaffung neben dem derzeitigen System parallel stattfinden? Wird es also neben den Mengen, die direkt oder über die Börse beziehungsweise "over the counter" beschafft werden, auch die gemeinsam beschaffte Erdgasmenge geben? Wird es einen Einheitspreis (kaum vorstellbar) oder ein Bündel an Verträgen geben wie vor der Liberalisierung der Energiemärkte? Und falls ja, wie werden die unterschiedlichen Preise im Endkundenmarkt gewichtet werden - womöglich wirtschaftliche Stärken der Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten berücksichtigend? Dies vor dem Hintergrund, dass die gemeinsam besorgten Mengen ja nicht gehandelt werden dürfen, da sich ja andernfalls der Preis dieser Mengen an die anderen Preise angleichen würde. Diese Nichthandelbarkeit würde einen Rattenschwanz an Verträgen nach sich ziehen. Ist das zeitlich zu schaffen?

Welche Auswirkungen sind auf den Börsenhandel zu erwarten? Würde der führende EU-Markt TTF - und in weiterer Folge auch der österreichische CEGH - seine Benchmarking-Funktion verlieren und Liquidität einbüßen? Wie muss der "over the counter"-Markt gestaltet werden, damit einerseits die Handelbarkeit erhalten bleibt, aber andererseits für das nicht handelbare Erdgas die Trades verunmöglicht werden?

Welche Auswirkungen auf die bereits abgeschlossenen Verträge, die in der Zukunft schlagend werden, sind zu erwarten? Würden die Preise für diese Verträge sinken (wahrscheinlich falls sich der Erfolg für die gemeinsame Erdgasbeschaffung tatsächlich rechtzeitig einstellt)? Und wer müsste für diese Verluste (Stichwort: Margins) einstehen? Immerhin handelt es sich um einen nachträglichen Eingriff in die Marktrahmenbedingungen.

Falls Energieunternehmen aufgrund fallender Future- und Forward-Preise in finanzielle Schieflage geraten sollten, könnte sich die Frage stellen: Wer haftet? Welche Auswirkungen wären zu erwarten - in Analogie zur deutschen Uniper? Kommt es zu Personalabbau? Mit welchen Schwierigkeiten müssten Kreditgeber (Banken) und Investoren (Fonds) womöglich rechnen?

Was würde mit den langfristigen "take or pay"-Verträgen passieren? Diese wurden auch mit anderen Erdgaslieferanten - neben Gazprom - abgeschlossen. Sollte Gazprom weiterhin liefern, stellt sich diese Frage auch hier.

Funktioniert die größere Verhandlungsmacht im Fall eines (derzeit ausgeprägten) Verkäufermarktes? Warum sollte sich ein Erdgaslieferant auf so einen Deal einlassen, der für ihn kurzfristig Nachteile bringt, wenn andere Absatzmöglichkeiten bestehen? Falls es für solche Energielieferanten Vorteile langfristiger Natur geben sollte, müsste die EU-Kommission vom Ausschluss von Langfristverträgen abweichen. Dies nach jahrzehntelangem - teilweise erfolgreichem - Kampf gegen wettbewerbshindernde Langfristverträge.

Müssen zumindest die an die EU angrenzenden Märkte in die Überlegungen einbezogen werden? Dies betrifft insbesondere Großbritannien. Muss die Vorgehensweise mit diesen Playern abgestimmt werden, was ja recht aufwendig ist?

Will oder könnte man mit der gemeinsamen Erdgasbeschaffung die Liberalisierung gefährden oder abschaffen? Es hat immerhin rund 30 Jahre gedauert, bis ein funktionierender liberalisierter Markt entstanden ist.

Eine Verringerung des Preises bedeutet üblicherweise eine Nachfragesteigerung - oder bei einem Gaspreisdeckel eine verringerte Angebotsmenge. Kann man diese Marktgesetze in einem Verkäufermarkt durch die angedachte gemeinsame Beschaffung aushebeln? Das ist eher zu bezweifeln.

Viel zu tun in wenig Zeit

Die oben genannten Initialüberlegungen sind sicherlich unvollständig, und es würden wahrscheinlich noch viele, bisher nicht bedachte Hürden und auch nachteilige Auswirkungen auftauchen, somit wäre "Eile mit Weile" angebracht. Es ist schon klar, dass die Wähler eine Milderung der Belastungen herbeisehnen und die Politiker wiedergewählt werden möchten, aber ob eine gemeinsame Beschaffung innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes erfolgreich implementiert werden kann, ist fraglich.

Einer Milderung des Preisdruckes und der Auswirkungen auf die Inflation wäre mit Verbrauchseinsparungen kurzfristig eher zu begegnen, da ab 2025/
2026 eine beträchtliche Erweiterung der LNG-Kapazitäten - die aus den "Final Investment Decisions" der Erdgasproduzenten bereits ersichtlich sind - die Erdgaspreise beträchtlich drücken dürften. Das Energieeffizienzgesetz hat bisher nicht gegriffen, andernfalls könnte das angepeilte Einsparungsziel von 11 Prozent um etwa 4 Prozentpunkte niedriger angesetzt werden.

Es ist auch höchste Zeit, den jetzigen Preisfindungsmechanismus (Merit-Order) beim Strom zu überarbeiten, da durch den großangelegten und erforderlichen Ausbau der Erneuerbaren andernfalls ein starker Kannibalisierungseffekt für die Strompreise einträte, aber: "There is no glory for prevention" - wie so oft.