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Silvio Vietta

Von Walter Hämmerle

Reflexionen

Freiheit und Demokratie, so lautet die These des deutschen Kulturwissenschafters Silvio Vietta, haben den Menschen zur Entdeckung der Vernunft geführt. Ein Gespräch über die zum Teil auch negativen Folgen des weltweiten und totalen Siegeszugs der Rationalität.


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"Wiener Zeitung": Herr Vietta, immer nur vernünftig zu sein zu und handeln - ist das nicht eine ziemlich freudlose Lebensanleitung? Man muss ja nur an die Liebe denken: Eigentlich macht es doch den Reiz unseres Lebens aus, sich in manchen Situationen voll und ganz der Irrationalität hinzugeben.

"Man muss sehen, dass der Grund für die Globalisierung des Rationalitätsgedankens in dessen machtpolitischer Überlegenheit besteht": Silvio Vietta.
© © Andy Urban

Silvio Vietta: Da haben Sie völlig Recht, aber es ist natürlich schon so, dass wir in einer Welt leben, die stark durch die Rationalität geprägt ist. Und auch unsere Probleme werden leichter lösbar, wenn wir sie rational angehen. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass es auch Rationalitätsverlierer gibt.

Zum Beispiel?

Etwa all jene Völker und Kulturen, die im Laufe der Jahrhunderte von den Europäern erobert und ausgelöscht wurden.

Andere Kulturen und Völker zu erobern war allerdings immer schon eine Begleiterscheinung der Menschheitsgeschichte, das ist also keine besondere Spezialität Europas.

Ja, das stimmt. Allerdings haben jene Völker, die am Beginn des Rationalitätsgedankens standen - zuerst die Griechen, später dann die Römer -, diese Denkform sofort zu ihrem Vorteil umgesetzt. Das zeigt sich besonders deutlich im militärischen Bereich. Die Geschichte der Rationalität ist daher immer mit Eroberung und Kolonialisierung verbunden. Besonders deutlich zeigt sich dies anhand der Geschichte des Römischen Imperiums.

Für Sie ist die Entwicklung der Rationalität untrennbar mit der europäischen Geschichte verbunden. Wie passt dies mit dem universalen Talent des Menschen zusammen, Probleme vernünftig zu lösen und Werkzeuge zu entwickeln?Diese besondere Form der Rationalität, die in Europa entwickelt wurde, ist eine spezifische Kulturleistung, deren Grundlagen im Mittelmeer und mesopotamischen Raum im Zusammenhang mit der Sesshaftwerdung des Menschen geschaffen wurden; der Ackerbau verlangte die Entwicklung von Kalendern, den Bau von Bewässerungssystemen, und daraus entstanden die Anfänge von Astronomie und Geometrie. Die Griechen profitieren quasi davon, was zuvor schon in Babylonien und Ägypten entstanden ist. Von daher unterscheidet sich die europäische Rationalität grundlegend von den in anderen Weltgegenden entwickelten. Sie hat sich zur Wissenschaft entwickelt.

Heute hat sich diese spezifische Kultur der Rationalität von Europa aus globalisiert. Existiert daneben überhaupt noch ein konkurrierendes Gedankengebäude?

Zunächst einmal muss man sehen, dass der Grund für die Globalisierung des Rationalitätsgedankens in dessen machtpolitischer Überlegenheit besteht: Es ist schlicht die effizienteste Methode, Krieg zu führen und Waffen zu konstruieren. Deshalb nehmen nur jene Völker und Länder einen Spitzenplatz in der Weltentwicklung ein, die diese Denkweise übernommen haben. Die Rationalität ist die Produktivkraft der Moderne. Die Fundamentalisierung von Religion, insbesondere des Islam, ist in meinen Augen eine Antwort auf den Triumph der westlichen Rationalität.

Ist diese Reaktion eine Weiterentwicklung oder ein Rückschritt?

Denkgeschichtlich ist es möglicherweise ein Rückschritt, weil die entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens die Abnabelung von der Religion war, wie es sich etwa in der Auseinandersetzung Galileo Galileis mit der katholischen Kirche ausdrückte. Dieser Konflikt wurde im Islam bis heute nicht wirklich ausgetragen, dabei war die arabische Kultur bis zum Mittelalter der europäischen zumindest gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen. In der Neuzeit hat sich diese Situa- tion dann grundlegend geändert. Das heißt aber natürlich nicht, dass islamische Länder nicht auch die westliche Spitzentechnologie, vor allem im Militärbereich, anwenden.

Wirklich glücklich hat uns der Triumph der Rationalität aber nicht gemacht. Das Denken in diesen Kategorien hat - neben dem Fortschritt - neue Abgründe eröffnet, wie insbesondere die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lehrt. Spätestens nach 1945 beginnt man dann auch in Europa, die reine Rationalität kritisch zu hinterfragen und die Humanität des Menschen in den Mittelpunkt des Denkens zu rücken. Liegt darin nicht auch ein Regress?

Tatsächlich hat das 20. Jahrhundert unvorstellbare Abgründe offenbart, die erst aus einer Kombination von Rationalität und Irrationalität ermöglicht wurden. Deutschland war am Ende des 19. Jahrhunderts in den Bereichen Technologie und Naturwissenschaften weltweit an der Spitze, gleichzeitig war es ein Hort der Irrationalität, etwa im Hinblick auf den grassierenden Rassismus und Antisemitismus. Darin liegt für mich ein Scheitern an der Moderne. Die Rückbesinnung auf Religion selbst würde ich nicht zwingend als Rückschritt bezeichnen; zweifellos ist es eine Tatsache, dass die Moderne in der Seele des Menschen viele Wunden schlägt, denen mit den Mitteln der Rationalität nicht beizukommen ist; für deren Behandlung und Heilung brauchen wir möglicherweise die Religionen. Spiritualität erfüllt für uns Menschen eine ungeheuer wichtige Aufgabe. Auch deshalb plädiere ich für eine Weiterentwicklung der Rationalität in Richtung einer größeren Nachhaltigkeit, wozu auch die Einbindung all jener Kräfte gehört, die die Menschen bewegen, wie etwa Sinnlichkeit und Emotionalität.

Mitunter kann es durchaus vernünftig sein, im Café zu sitzen, wie hier der Journalist (l.) und der Wissenschafter, zu plaudern und die Zeit mit scheinbar zweckfreien Genüssen zu vertreiben...
© © Andy Urban

Beim Islam nennen wir die Verweigerung rationalen Denkens einen Rückschritt; wenn es um uns selbst geht, sprechen wir von Weiterentwicklung. Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen?

Sicher ist, dass hinter dem Siegeszug der Rationalität durch die europäische und später globale Geschichte eine starke Einseitigkeit lag; dieser Weg war zwar höchst effizient und erfolgreich, aber führte auch zu furchtbaren Entwicklungen. Die Geschichte des Kolonialismus kann durchaus als permanenter Genozid gesehen werden, in Amerika beispielsweise wurden fast 90 Prozent der indigenen Bevölkerung ausgerottet. Erst heute entdecken wir, dass diese angeblich primitiven Völker über einen ungeheuren Wissensschatz verfügen, etwa in Bezug auf die Pflanzen- und Tierwelt ihrer Umgebung.

In der Figur des "Homo oeconomicus" erlangt das rationale Weltbild seine Perfektion; dieser richtet sein ganzes Handeln und Streben nach Effizienz und Wohlstand aus. Allerdings hat dieses Prinzip auch zu Entwicklungen in einigen Bereichen geführt, die die Funktion des wirtschaftlichen Gesamtsystems an den Rand des Zusammenbruchs bringen. Ein von Computern gesteuerter Aktienhandel gibt Kauf- und Verkaufsorder in Sekundenbruchteilen, die Logik des Finanzkapitalismus hat längst den Bezug zur Realwirtschaft verloren . . .

Das sind Spitzenentwicklungen eines Rationalisierungsprozesses, dessen Problematik von großen Teilen der Gesellschaft erst entdeckt wurde, als es schon zu spät war. Insbesondere die Politik zeichnet sich heute vielfach dadurch aus, dass sie ein viel zu naives Konzept von sich selbst und der Realität hat. Europa etwa bedeutet nicht nur Friede und Freiheit, wie die Politik nicht müde wird zu wiederholen, sondern die Europäisierung des Denkens hat weit darüber hinausgehende Konsequenzen. Heute stehen wir vor der Aufgabe, diese Explosion der Rationalität in manchen Teilbereichen wieder einer gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen. Ich persönlich bin ja der Überzeugung, dass man sehr wohl rational handelt, wenn man solche Extrementwicklungen unterbindet, auch wenn sie dem Prinzip der Rationalität gehorchen mögen. So wie auch alle anderen menschlichen Bedürfnisse natürliche Grenzen haben, müssen auch dem rationalen Zahlenspiel der Wirtschaft Grenzen gesetzt werden.

Ist unsere Gesellschaft mithilfe rationaler Schlussfolgerungen dazu gelangt, die Menschenrechte absolut zu setzen - oder basieren diese nicht vielmehr auf Prinzipien, die über und neben der Rationalität existieren?

Ich finde, dass Kants kategorischer Imperativ, wonach man einem anderen nichts antun soll, was man nicht selbst ertragen will, durchaus rational begründbar ist.

Allerdings gab es in der Geschichte sehr wohl Kulturen - und die letzte ist noch gar nicht so lange her -, die mit scheinbar rationalen Argumenten zwischen lebens- und unlebenswertem Leben unterschieden haben.

Ja, und genau deshalb muss sich Rationalität für andere Dimensionen des menschlichen Denkens und Fühlens öffnen. Unter dem Gesichtspunkt der Empathie wird der ethische Grundsatz zu einer grundvernünftigen Lebensanleitung.

Die Sache ist allerdings noch nicht endgültig ausdiskutiert: Zwar ist heute unumstritten, dass die Menschenrechte auf alle Menschen Anwendung finden sollen. Wie sich das allerdings mit unseren nächsten Verwandten, den Primaten, oder aber allen Tieren verhält, ist nach wie vor Gegenstand von Grundsatzdebatten. Dazu tragen auch neue genetische Erkenntnisse bei, die den grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Primaten relativieren.

Das stimmt, allerdings ist es eine Tatsache, dass der Mensch nicht allein auf der Erde lebt; und wer daraus die falschen Schlüsse zieht, gefährdet durch sein Verhalten nicht nur das Überleben der menschlichen Rasse. Daraus ergibt sich auch für andere Lebewesen nicht nur ein Lebensrecht, sondern eine Reihe von Rechten, die über dieses hinausgehen.

Mitte der 1980er Jahre drückte der deutsche Soziologe Ulrich Beck mit seinem Schlagwort von der "Risikogesellschaft" ein neues Unbehagen an den Möglichkeiten menschlicher Fähigkeiten und deren Folgen aus. Besonders groß ist die Sorge vor jenen Gefahren, die für das menschliche Auge nicht direkt erfassbar sind, wie etwa die Atomenergie oder die Gentechnologie. Wie rational ist diese Angst?

Die kann natürlich auch hysterische Züge annehmen, es ist allerdings schwierig, vernünftig zu bleiben, wenn solch apokalyptische Bilder wie nach dem Erdbeben und dem Atomunglück in Fukushima im März 2011 durch die Medien gehen. Dass es 20.000 Tote durch den Tsunami gegeben hat, ist ziemlich schnell von den möglichen Folgen des AKW-Unglücks in den Hintergrund gedrängt worden.

Wie gut passen Rationalität und Demokratie zusammen?

Aus meiner Sicht wird Rationalität durch Demokratie und Freiheit begründet. Vor 2500 Jahren haben die Griechen die Perser besiegt, weil sie über eine bessere, das heißt rationalere Schlachtordnung verfügten; die Logik ihrer Phalanx begründete somit auch eine Politik der Freiheit und Gleichheit. Umgekehrt gibt es keinen Beleg, dass die Dominanz rationalen Denkens zwingend zu Freiheit und Demokratie führt, das zeigen die zahlreichen autoritären Regime der Gegenwart und Vergangenheit.

Silvio Vietta.
© © Andy Urban

Gilt dieser Befund auch für die moderne Massendemokratie? In dieser werden Wahlkämpfe nicht selten durch Stimmungen entschieden - mitunter auch explizit gegen rationale Prinzipien.

Diese Entwicklung gibt es zweifellos, man muss aber auch sehen, dass es ziemlich schwierig ist, die oft abstrakten und sehr komplexen Themen der Gegenwart - wie etwa Energieversorgung oder Schuldenkrise - objektiv und ohne Emotionen zu diskutieren, eben, weil sie so abstrakt sind. Hier spielen auch die Medien eine zentrale Rolle. Von daher bleibt es wohl ein ewiger Kampf in der Demokratie, die Probleme, die wir Menschen selbst erzeugen, auch nach rationalen Kriterien zu diskutieren und entsprechend zu lösen. Hier stellt sich dann nicht zuletzt das Problem der Effizienz, wenn etwa die Dringlichkeit von Lösungen mit dem Prinzip demokratischer Mitwirkung kollidiert. Ich würde aber - zumindest in Deutschland und Österreich - der politischen Debatte doch attestieren, dass sie sehr wohl versucht, der Komplexität der Probleme gerecht zu werden.

Sind sie selbst ein rationaler Mensch?

Zumindest teilweise, Rationalität allein macht uns Menschen allerdings nicht glücklich.

Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Silvio Vietta, geboren 1941 in Berlin, ist Literaturwissenschafter und Professor emeritus an der Universität Hildesheim. Seine Forschungen konzentrieren sich auf deutsche Literatur, Philosophie und Europäische Kulturgeschichte mit Schwerpunkten in den Bereichen Expressionismus, Frühromantik und Moderne.

Vietta studierte Germanistik, Philosophie, Anglistik und Pädagogik (Promotion 1970) an der Universität Würzburg. Es folgten Lehrtätigkeiten in den USA, Mannheim und Heidelberg, Tübingen und Hildesheim, später auch in Moskau, Sassari in Italien sowie Campinas in Brasilien. Für seine wissenschaftlichen Forschungen wurde er 2006 mit dem Friedrich-Nietzsche-Preis ausgezeichnet. Vietta gehört zu den Mitbegründern einer neuen Forschungslinie der Europaforschungen ("Europäistik") mit Studien zur Europäischen Kulturgeschichte und neuerdings zur Rationalität und der in ihr begründeten europäischen und globalen Zivilisation.

Silvio Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung. Fink Verlag, München 2012.