)
Seit den 1950er-Jahren leben in der Siedlung Flüchtlinge aus aller Welt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Der Duft von frisch geschnittener Dille und Kardamom liegt in der Luft, sobald man der trockenen Straße am Rand von Simmering folgt. Lautes Kindergelächter ist zu hören, wenn man weiter um die Ecke in die Zinnergasse biegt. Eine Horde Vierjähriger kreuzt laut scheppernd mit ihren Dreirädern den ungepflasterten Parkplatz. "Ghetto Macondo" hat jemand auf einen alten Stromkasten gesprayt. Macondo - es ist die Stadt in der Stadt. Ein Ort, von dem die wenigsten Wiener wissen, dass es ihn überhaupt gibt.
Dabei erzählt kaum ein anderer Ort so viele Geschichten und so viel Geschichte über Wiens Migranten wie Macondo. Seit den 1950er-Jahren pilgerten Flüchtlinge aus aller Welt hierher. Es waren Männer und Frauen aus Chile, Ungarn, Rumänien und Tschechien, die in Wien ihr Glück gesucht haben. Sie ließen sich nieder in den ehemaligen k.&k. Gebäuden der Kaserne Kaiserebersdorf. Den Namen konnte damals kaum jemand aussprechen. Die Legende besagt, dass ein mexikanischer Schriftsteller der Siedlung ihren heutigen Namen gab. Sie erinnerte ihn an den fiktiven Ort aus dem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez.
Fern ab von Migranten- Voyeurismus
Heute leben rund 3000 Menschen in Macondo. Vom Kind bis zum Pensionisten haben Menschen aus 22 Ländern hier, abgeschieden in der ghettoähnlichen Wohnsiedlung - knapp 45 Minuten vom Zentrum Wiens entfernt - ihre Heimat gefunden. Hier, wo sich der Staub an heißen Sommertagen wie feiner Sand auf die dunklen Wimpern der Kinder legt, ist Amirs Zuhause. Amir ist zwölf Jahre alt, Tschetschene und kürzlich zusammen mit seiner Mutter und seinen zwei Geschwistern nach Österreich geflüchtet. Als Protagonist des semi-dokumentarischen Filmprojekts "Macondo" wird er im aktuellen Film von Sudabeh Mortezai seine Geschichte erzählen. Seine Geschichte und auch die vieler anderer. Denn obwohl es sich um einen Spielfilm und keine Dokumentation handelt, sind die Themen aus dem Leben gegriffen. Die Regisseurin Mortezai, die mit preisgekrönten Dokumentarfilmen wie "Im Bazar der Geschlechter" bekannt wurde, wollte es dieses Mal nicht klassisch dokumentarisch angehen. "Den Gedanken, dass da jetzt ein fremdes Filmteam kommt und wie ein Alien von oben auf diesen Ort herunterblickt, fand ich von Beginn an schrecklich. Diesen Migranten-Voyeurismus wollte ich nicht befriedigen", erklärt sie. Und so kommt es, dass fast alle Schauspieler in dem neuen Film Laien sind und ,Macondianer‘. Ihre Geschichten sind aus ihren Erlebnissen und Erfahrungen heraus entwickelt - die Handlung des Films dennoch erfunden.
Ein Film von und mit den "Macondianern"
Mit zwölf Jahren floh Mortezai mit ihrer Familie aus dem Iran nach Österreich. Sie kann sich mit der Situation ihres zwölfjährigen Hauptdarstellers besonders gut identifizieren. In ihrem Film soll es vor allem um die Perspektive der Schwächsten in den Flüchtlingsfamilien gehen: die Kinder. "Es hat mich einfach interessiert - auch aufgrund meiner eigenen Migrationsgeschichte -, dieses Kind-Sein zwischen zwei Kulturen darzustellen", erzählt die gebürtige Iranerin. "Kinder aus Migrationsfamilien haben eine Vermittlerrolle, da sie schneller in einer neuen Kultur ankommen und die Sprache annehmen. Viele sind in der ersten Zeit oft die einzigen und auch wichtigsten Übersetzer."
Entstanden ist die Idee für einen Spielfilm im Rahmen eines anderen Filmprojekts vor Ort. Mortezai verliebte sich zuerst in den Ort, dann in den Gemeinschaftsgarten - in dem sie auch ein Beet bestellte - und schließlich in die Menschen selbst. Vor allem in die Kinder. "Ich liebe Kinder. Niemand ist authentischer als sie. Und in Macondo sind vor allem die Kinder sehr prominent." Denn während die Eltern in der Stadt ihren langen Arbeitstagen nachgehen, wachsen die Kinder gemeinsam auf. Quer durch alle Altersgruppen spielen sie faktisch unbeaufsichtigt zwischen den heruntergekommenen und staubigen Wohnhäusern Fußball und verstecken sich in den weitläufigen Wiesen und dem Wäldchen der Umgebung. Immer draußen, immer zusammen, immer viele. Denn in den kleinen Sozialwohnungen des Wiener Integrationsfonds ist zum Leben - geschweige denn zum Spielen - viel zu wenig Platz.
Mortezais Film spielt nicht nur in Macondo, er arbeitet auch mit Macondo zusammen. So finden auch die Herstellung von Requisiten für den Film sowie das Catering für die rund zehnköpfige Filmcrew in Macondo statt. "Das war ein großer Wunsch von mir. Ich wollte von Anfang an so viele Bewohner wie nur möglich in die Produktion des Films integrieren - dabei aber keine Almosen verteilen, sondern auf Augenhöhe bleiben." Nun kochen abwechselnd eine somalische und eine tschetschenische Köchin für die Crew. "Wir ziehen alle zusammen an einem Strang. Das soll nicht zuletzt beim gemeinsamen Essen spürbar sein. Denn: "Das Filmteam ist keine Horde von Heuschrecken, die den Ort abgrast und ihn dann kahlgefressen zurücklässt und weiterfliegt", sagt die Regisseurin.
Abschiebezentrum mittenin der Siedlung
Obwohl Macondo für Mortezai einen der spannendsten Orte in Wien darstellt, will sie in ihrem Film auch die großen Probleme, die das abgeschiedene Leben am Rande der Stadt mit sich bringt, aufzeigen. Die Schwierigkeiten sind vor allem strukturell. Das einzige Verkehrsmittel ist ein Bus, der beispielsweise sonntags nicht einmal fährt. Deutschkurse an Ort und Stelle werden nicht mehr angeboten. Vor rund drei Jahren wurde zudem mitten in der Siedlung ein Abschiebezentrum eröffnet. Kurze Zeit später nahm sich eine verzweifelte Asylwerberin nach einem negativen Bescheid durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben. Es waren vor allem die in der Anlage spielenden Kinder, die das Unglück mitbekommen haben.
"Klar ist Macondo verwahrlost. Nicht einmal einen ordentlichen Spielplatz gibt es hier, geschweige denn Infrastruktur", kritisiert Mortezai. Trotz all der Schwierigkeiten spürt sie in der Siedlung dennoch eine große Solidarität, basierend auf den ähnlichen Migrationserfahrungen. "Diese warme Solidarität verkörpern vor allem die Kinder für mich", sagt Mortezai zufrieden. Wenn alles nach Plan läuft, sollten die Dreharbeiten für den Film im September abgeschlossen sein.