Gedanken während einer Wanderung durch die antike Kulturlandschaft Lykien im Südwesten der Türkei.
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Manche der antiken anatolischen Landschaften sind in die Werbeprospekte des türkischen Tourismus aufgenommen worden und dadurch heutigen Mittelmeer-Urlaubern ein Begriff. Viele Touristen kennen Kappadokien mit seinen frühchristlichen Höhlenkirchen. Von Lydien haben Leute mit klassischer Bildung gelesen, es muss im Altertum sehr wohlhabend gewesen sein und sein König Krösus galt als geradezu märchenhaft reich. Aber wo liegt oder lag Lykien?
Lykien ist oder war der kurze Küstenstrich westlich von Antalya bis nach Fethiye. Kurz nur in der Luftlinie, kaum mehr als hundert Kilometer, aber will man die Küste abgehen, legt man ungefähr vierhundert Kilometer zurück. Hinter der Küste ragen hohe Bergketten auf, die Bey und die Ak Dagları, die über dreitausend Meter erreichen - das Land ist daher offen zum Meer und gegenüber dem anatolischen Hochland abgeschlossen.
Eine abgeschiedene Landschaft, wenn man kein Seefahrer ist. Und das waren die einwandernden Türken vor achthundert Jahren sicher nicht, denn sie kamen aus den wasserarmen Steppen Zentralasiens. Lykien dürften sie erst spät "entdeckt" haben, und eingewandert sind sie in die Küstenstriche eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten. Im 19. Jahrhundert war die Küste westlich von Antalya sehr dünn besiedelt, zum Teil von Griechen. Die winzigen Städtchen jedenfalls waren griechisch und hießen Myra (heute Demre), Andifli (heute Kaş), Kalamaki (heute Kalkan) und Makri (heute Fethiye).
Nomaden und Ruinen
Der Brite Charles Fellows war ein Entdecker und Entwender vieler lykischer Altertümer, besonders der prächtigen, großen Sarkophage, die allüberall in der lykischen Landschaft standen und noch stehen oder nach Fellows Erwerbungen in der großartigen Lykien-Abteilung im British Museum in London zu bewundern sind. Er berichtet 1842, er hätte hinter den riesenhaften Ruinen von Patara, westlich von Kalkan, nur einige Zelte viehzüchtender Nomaden gefunden, und auch die Nomaden verbrachten nur den Winter nahe der Küste bei Patara, wo es auch heute noch im Sommer von Moskitos wimmelt. Im Sommer waren sie auf den yaylas, den Almen, die an den Hängen der Ak und der Bey Dagları liegen.
Heute gibt es mehr als die vier ursprünglich griechischen Städtchen: So ist Kumluca durch die Gemüsezucht in großen Plastiktunneln vom verträumten Dorf, das es bei unserem ersten Besuch war, zu einer riesenhaft scheinenden Stadt gewachsen, die plastikglänzend die ganze Küstenebene eines fast immer trockenen Flussdeltas ausfüllt.
Kaum mehr als Ruinen aber fand Charles Fellows, als er von Smyrna, so hieß Izmir damals, nach Lykien hineinritt. Sein Reisebericht ist faszinierend. Die Menschen, die er auf dem Gebiet des alten Lykien antraf - kaum an der Küste und auch im lykischen Hinterland nur in kleinen Dörfern angesiedelt -, machten wenig Gebrauch von den riesenhaften Ruinen, die dicht an dicht in diesem Land der siebzig Städte des Altertums standen oder, von Erdbeben gefällt, lagen. Nur selten war ein Dorf aus Spolien, also Trümmern des Altertums gebaut.
Vor 2.500 Jahren, noch bevor die Lykier, ein Volk mit eigener Sprache und Schrift, ganz in die griechische Welt integriert wurden, muss Lykien eine dicht besiedelte Stadtlandschaft gewesen sein. Nur wenige Kilometer trennen die heutigen Ruinen voneinander, dazwischen lag vermutlich Gartenland, wo heute Macchia und anstehende Felsen das Land prägen: Obstbäume und Olivenhaine, und in den etwas höheren Lagen Getreidefelder. Denn die Bevölkerung soll mehr als hunderttausend Menschen betragen haben.
Vereinsamte Orte
Wann haben die Bewohner diese blühenden Städte verlassen - und warum taten sie das? Das frage ich mich, wenn ich durch die kargen Olivenhaine und die außer mir nur von Ziegen durchstreunte Macchia wandere. In der Hand meist Kate Clows Buch "The Lycian Way", eine Beschreibung einer von dieser Engländerin mit einheimischen Helfern freigeschnittenen und markierten Route auf alten, zuvor verwachsenen Wegen entlang der lykischen Küste.
In die Gegend des heutigen Dorfes Kılıcı bin ich zum ersten Mal vor zwanzig Jahren an einem heißen Spätsommertag, das bedeutet hier im Oktober, von Osten her gekommen, aus Demre, dem alten Myra, der Stadt des heiligen Nikolaus. Zweimal hatte ich den Weg verloren, wahrscheinlich in einer Art Trance durch die Hitze und die Erschöpfung.
Als ich einen Sattel zu einer ova, einer Ebene hinter den Küstenhügeln, erreicht hatte, sah ich zwar viele antike Sarkophage, aber zuerst kein Dorf. Schließlich erkannte ich doch Ansätze einer Straßentrasse und gelangte in eine Ansammlung von Häusern oder eher Hütten, die vermutlich der Ort Kılıcı sein sollten. Und dann die freudige Überraschung: Das Fundament einer Moschee im Bau - Moscheen entstehen ja seit dreißig Jahren in großer Zahl an den entlegensten Stellen der islamischen Welt -, und auch wenn sonst von der Moschee noch nichts stand, waren die Brunnen doch schon installiert und spendeten köstliches kaltes Wasser.
Es war zuerst keine menschliche Seele zu sehen, doch dann kamen zwei alte Männer zwischen den Hütten hervor. Meine in lückenhaftem Türkisch hervorgestammelten Fragen ergaben, dass es in dem Dorf weder eine lokanta, ein Wirtshaus, noch überhaupt kaum Menschen gab, jedenfalls jetzt in der heißen Jahreszeit und jedenfalls keine jungen, denn sie wären alle mit dem Vieh auf den yaylas, den Wiesen oder Almen in den Bergen. Wie bei Fellows vor 200 Jahren, musste ich denken.
Auf einer meiner späteren Wanderungen durch Lykien habe ich erfahren, dass im Altertum nördlich der erst heute wieder durch die neue Moschee als Dorf erkenntlichen Häusergruppe von Kılıcı eine ausgedehnte Stadtlandschaft lag. Ihr Zentrum, die Stadt Kyaneai, so haben es Tübinger Forscher und der österreichische Archäologe Thomas Marksteiner ermittelt, die zahlreiche Höfe in der heute von schwer durchgängiger Macchia bedeckten Landschaft ausgegraben haben, lag zehn Kilometer weiter nördlich auf einem Plateau hoch über der Küste.
Im heurigen Frühjahr beschloss ich, mit einem Freund nach Kyaneai hinaufzusteigen. Die Rucksäcke deponierten wir unterhalb des Steilanstiegs bei freundlichen Bauern und stiegen über teilweise noch sichtbare Stufen, die stellenweise allerdings weggespült oder unter einer mehrere Meter hohen, steilen Schuttwand verschwunden waren, zweihundert Meter hinauf. Oben wieder riesige Steinsarkophage, bald aber dann eine hohe fast noch vollständig erhaltene Stadtmauer.
Durch Dornengestrüpp
Durch eine Mauerbresche stiegen wir in die von Dornengebüsch überwucherte Stadt, unsere Anoraks bekamen Risse, und wir hüteten uns, beim Unterklettern der Büsche in eine der vielen leeren Zisternen zu stürzen. Eine ungefähre Orientierung und Identifizierung der Gebäuderuinen lieferte uns der archäologische Führer von Thomas Marksteiner. Nach einer halben Stunde schweißtreibenden Ruachelns erreichten wir die gegenüberliegende Mauer, ein überwölbtes Tor und standen bald auf einer Wiese vor dem riesenhaften, fast gänzlich unversehrten eindrucksvollen Amphitheater.
Nach dem Abstieg labt uns türkische Gastfreundschaft: Die Bauern bereiten uns gözleme zu, köstliche Palatschinken mit Oliven, Paradeisern und Gurken drauf. Es ist Sonntag, und so rollt auch Verwandtschaft an: Der mukhtar (Bürgermeister) stellt sich vor und auch ein Viehzüchter, der als Einziger mit seinen Ziegen schon oben bei den Ruinen von Kyaneai gewesen ist. Wie viele türkische Gene diese Leute haben oder ob sie doch weitgehend, wie Fellows vermutete, die Nachfahren der alten Lykier sind, die in viel größerer Dichte einst hier siedelten, sei dahingestellt, ich habe keine Ahnung. Schade, dass mein jahrelang geübter Türkischwortschatz sich kaum hervorholen lässt!
Und dann beschließen wir, noch einen meiner jahrelangen Träume zu verwirklichen: das fast nur in österreichischen Aufzeichnungen dokumentierte Trysa zu besuchen, ein Felsennest östlich der Nikolaus-Stadt Myra mit seinem Heroon, einem Bauwerk zur Verherrlichung eines Fürsten. Auch hier gibt wieder Thomas Marksteiners Buch die Hinweise, wo es zu finden sei.
Museum in Wien
Vor 140 Jahren hat dort einer meiner Kollegen, wenn ich das so sagen darf, der Wiener Archäologieprofessor Otto Benndorf, fast alles mitgenommen und es "dem Kaiser vor die Füße gelegt", in der Erwartung, für die Friese mit Szenen griechischer und lykischer Heldentaten wie versprochen in Wien ein Museum zu bekommen. Dies ist zwar 140 Jahre später noch immer nicht geschehen, aber einige eindrucksvolle Friesplatten und eine Dia-Schau des ganzen, langen Frieses kann man im Wiener Ephesos Museum besichtigen.
In Trysa kraxeln wir durch noch dichteres Dornengebüsch als in Kyaneai, über den schmalen Felsgrat zu den Resten der Burg und identifizieren schließlich die kümmerlichen Grundmauern des Heroons. Es war eine Riesenleistung von Benndorf und seinem Team, die Friese und das Eingangstor über den Steilhang zu einem österreichischen Schiff zu bringen. Beim Transport ist den Archäologen allerdings das mit Statuen bestückte Eingangstor den Hang hinuntergekollert, zerbrochen und musste wieder zusammengesetzt werden.
Beim Abstieg merken wir, dass es stellenweise sogar eine Markierung gibt; Kate Clow schreibt mir später, sie hätte sie jüngst angelegt, eine Variante ihres mittlerweile weltberühmtem "Lykischen Wegs", vielleicht eine Anregung für österreichische Touristen.
In Wien besuchten wir wenige Tage später das Ephesos Museum, wo ein kleiner Ausschnitt aus den berühmten, der Welt noch nur im Internet zugänglichen Friesen gezeigt wird. Uns wird versichert, dass sich dies ändern wird, doch nur, wenn das "Haus der Geschichte" die dem Heroon zugesagten und bereits für die schweren Steinplatten mit Stahlrahmen adaptierten Räume wieder hergibt. Es hat diese ja nur "geliehen". Geschichte des 20. Jahrhunderts gegen klassische Geschichte - eine österreichische Komödie.
Gero Vogl hat als Physiker auf dem Gebiet von Diffusion und Ausbreitung geforscht. Jetzt studiert er die Ausbreitung von Menschen und Sprachen.