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"Singen oder scherzen?"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Die Ukraine wählt in einem Jahr: Sowohl ein Rocksänger als auch ein Komiker haben gar nicht so schlechte Chancen.


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Kiew/Wien. Treffen sich ein Sänger und ein Komiker bei der Stichwahl zum ukrainischen Präsidenten. Nicht als Wähler, sondern als Kandidaten. "Wenn ich Präsident werde, dann wirst du bei meiner Angelobung auftreten", sagt der Sänger. "Nein, du wirst auftreten, weil ich gewinnen werde!" Es ist ein Witz, den der Komiker Wladimir Selenskij am Sonntag in seiner Fernsehshow zum Besten gab. Konkret geht es dabei um den Musiker Swjatoslaw Wakartschuk - und um ihn selbst.

In einem Jahr finden in der Ukraine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Laut Umfragen führt derzeit die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko (16,1 Prozent) vor dem ehemaligen Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko (12,7 Prozent). Der amtierende Präsident Petro Poroschenko liegt gleichauf mit dem Oppositionspolitiker Oleh Ljaschko (12,2 Prozent). Doch seit Wochen kursieren in den Umfragen zwei neue Namen: die des Komikers Selenskij und des Sängers Wakartschuk, die mit jeweils knapp zehn Prozent den Politikern dicht auf den Fersen sind. Mehr noch: Würde es einer der beiden in die Stichwahl schaffen, so würden ihnen sowohl Timoschenko als auch Poroschenko unterliegen, so eine Umfrage des Kiev International Institute of Sociology.

Das mag sehr theoretisch klingen - immerhin haben weder der Sänger noch der Komiker eine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen angekündigt, Wakartschuk hat das zuletzt sogar ausgeschlossen. Ein Zufall sind die Werte freilich nicht. Wakartschuk, als Sänger der Rockband Okean Elzy einer der bekanntesten Musiker der Ukraine, saß nach der Orangen Revolution kurz als Abgeordneter im Parlament und hat zuletzt auf Twitter ein Zehn-Punkte-Programm vorgestellt, um die Ukraine zu reformieren. Der Komiker Selenskij ist vor allem als fiktiver Präsident und Hauptfigur in der Polit-Satire "Sluga Naroda" (der Diener des Volkes) bekannt. Unter dem gleichnamigen Titel hat er aber auch schon eine Partei gegründet, sie wurde bereits registriert.

Vertrauen in Politik erodiert

Die Zahlen sind ein Symptom für die Krise, in der die ukrainische Politik steckt. Der Lebensstandardin dem osteuropäischen Land ist gesunken, der Kampf gegen die Korruption zäh. Im Osten des Landes führt die ukrainische Armee immer noch Krieg gegen die prorussischen Separatisten.

Dass die Ukrainer wankelmütige Wähler sind, zeigt sich aber nicht erst heute. Im Gegenteil: Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist kein einziger Präsident, mit Ausnahme von Leonid Kutschma im Jahr 1999, im Amt bestätigt worden. Dennoch beobachten Soziologen in der Ukraine derzeit eine neue Tendenz. "Die Nachfrage nach neuen Gesichtern ist diesmal besonders groß", sagt sagt Oleksij Antipowitsch, Direktor der soziologischen Gruppe Rating. Früher hätten sich die Wähler auf Politiker aus der Opposition oder den Machtparteien beschränkt. Dass jetzt aber plötzlich ein Rocksänger und ein Komiker zu den beliebtesten politischen Akteuren zählen, zeugt von einer Enttäuschung mit der gesamten politischen Klasse.

"Aber hier liegen wir absolut im europäischen Trend", sagt Antipowitsch. Man denke nur an die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo in Italien. "Das zeugt einfach generell davon, dass sich die Menschen von der traditionellen Politik abwenden." Dennoch ist die ukrainische Politik noch stärker auf Personen zugeschnitten als im Westen. Die Wahlprogramme sind dünn und vage, ideologisch gibt es vor allem bei den Zentrumsparteien kaum Unterschiede. Umso größer sind dabei die Hoffnungen, die an konkrete Personen geknüpft werden. "Die Menschen stimmen bei den Wahlen nicht für eine Ideologie, sondern für eine Person", sagt Antipowitsch. Da ist es nur logisch, dass viele Parteien den Spitzenkandidaten schon im Namen tragen, wie der regierende "Block Petro Poroschenko" oder die "Radikale Partei Oleh Ljaschko".

Der Wunsch nach einem demokratischen Umbau und die Sehnsucht nach einer starken Führungsfigur: Es ist genau dieser Widerspruch, an dem sich die ukrainische Politik seit ihrer Unabhängigkeit immer wieder zerreibt. Die ukrainische Chronik ist voll mit Geschichten über Politiker, die kometenhaft aufsteigen, um umso tiefer zu fallen. Der Anführer der Orangen Revolution, Wiktor Juschtschenko, wurde 2010 unter Schimpf und Schande (5,45 Prozent im ersten Wahlgang) abgewählt. Arsenij Jazenjuk, der am Maidan auftrat und bei den Parlamentswahlen 2014 einen Überraschungserfolg verbuchte, musste nach 18 Monaten das Feld räumen.

Schneller Aufstieg, tiefer Fall

Ein besonders dramatisches Beispiel ist die Kampfpilotin Nadja Sawtschenko, die 2014 in der Ostukraine von Russen gefangen genommen wurde und in Abwesenheit ins ukrainische Parlament gewählt wurde. Als "unsere Nadja" wurde sie schon als die nächste Präsidentin der Ukraine gehandelt. Nach ihrer Entlassung, ihrer Rückkehr und einigen eigenwilligen Reformvorschlägen rasselten ihre Beliebtheitswerte aber in den Keller. Inzwischen sitzt sie wegen eines Putschversuches in Haft.

Oder Micheil Saakaschwili, der ehemalige georgische Präsident, den Poroschenko zuletzt eingebürgert und auf den Gouverneursposten in Odessa gehievt hatte und der zwischenzeitlich als einer der beliebtesten Politiker der Ukraine galt. Nach einem Zerwürfnis hat ihm Poroschenko aber die Staatsbürgerschaft wieder entzogen. Nach einigem Hin und Her lebt Saakaschwili derzeit in den Niederlanden. Ob der Sänger oder der Komiker nun antreten, oder nicht - eines lässt sich schon heute sagen: Die politische Landschaft der Ukraine ist so zersplittert wie nie zuvor. Im ersten Wahlgang wird wohl keiner der Kandidaten gewinnen können. Jeder dritte Ukrainer angibt, unentschlossen zu sein. "Mit einer großen Wahrscheinlichkeit wird der neue Präsident ein Präsident der Minderheit sein", sagt der Kiewer Politologe Wladimir Fesenko. "Die Mehrheit der Ukrainer wird ihm mit Misstrauen oder zumindest großen Vorbehalten begegnen."