Stottern ist nach wie vor eine der rätselhaftesten Störungen der Kommunikation. Nicht nur Könige leiden darunter, wovon sich das "Wiener Journal" in einer logopädischen Praxis überzeugen konnte.
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Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nicht. Es sind meist diese überraschenden, kleinen Zwischenrufe im Alltag, die für einen bleibenden Eindruck sorgen. Und wenn diese kleinen Irritationen des Alltäglichen dann auch noch vorgefertigte Meinungen und verfestigte Erwartungen über den Haufen werfen, dann ist es ein wahrlich großer Moment.
Ein solcher Augenblick ereignete sich, als ein dicklicher, kleiner Mann mit schlechten Zähnen die Bühne der Castingshow "Britain’s got Talent" betrat und vor sich hin stammelte. Man konnte in den Augen der Juroren und des Publikums ablesen, dass diese "Witzfigur" gleich für einen wunderbaren Fall von Fremdschämen sorgen würde. Doch dann stimmte er "Nessun dorma", die Arie aus Giacomo Puccinis Oper "Turandot" an. Die Menschen jubelten und weinten. Der Rest ist Geschichte und Paul Potts mittlerweile ein Star.
Es geht nun aber nicht um dicke Menschen, die wider gängige Vorurteile Leistungen erbringen können, dafür aber um Talenteshows und Überraschungen. Es scheint die Basis aller Vorurteile und Erwartungshaltungen zu sein, dass eben diese nicht hinterfragt und selten geändert werden. Dies zeigte sich in zwei weiteren Fällen sehr drastisch. Kennen Sie Gareth Gates oder Florian Schubert? Nein? Dann wird es Zeit. Es handelt sich um die Teilnehmer zweier Castingshows in den USA beziehungsweise Deutschland. Beide Teilnehmer wurden, wie in diesen Sendungen üblich, erst einmal vor ihrem Auftritt in einem Interview vorgestellt. An und für sich noch keine Besonderheit. Doch dann, ja dann kam das für die "Normalsterblichen" so interessante. Sowohl Gates wie auch Schubert brachten keinen Satz heraus. Beide stotterten so sehr, dass es undenkbar schien, von einem der beiden eine Zeile Liedtext zu hören. Sie können sich vermutlich denken, was dann passiert ist. Auf der Bühne sangen beide Teilnehmer aus Leibeskräften, wunderbar, fehlerfrei und ohne einen Aussetzer der Sprache. Wieder einmal waren die Zuseher wie gelähmt ob der Darbietung. Wie ist es möglich, dass man keinen Satz ohne Stottern reden, sehr wohl aber so schön singen kann?
Der Rhythmus
Obwohl über keine Kommunikationsstörung so viel geschrieben wurde und das Phänomen Stottern seit über zweitausend Jahren bekannt ist, gibt es immer noch zahlreiche Missverständnisse und großes Unwissen. Nach aktuellen Angaben sind rund 80.000 Österreicher von der Redeflussstörung betroffen. Stottern, ein Handicap, das gerade im "Kommunikationszeitalter" die Betroffenen massiv beeinträchtigen kann, führt im schlimmsten Fall dazu, dass die Kommunikation mit Mitmenschen gänzlich vermieden wird. Zwar haben Internet und Smartphones mit der Möglichkeit, SMS oder Chats zu nutzen, wesentliche Erleichterungen gebracht, doch im Alltag gilt es zahlreiche Stolpersteine zu meistern. Wie es zur Sprachstörung kommt und welche Therapie die richtige ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Gründe für Redeflussstörungen wie etwa das Stottern sind noch nicht wirklich geklärt, auch wenn weltweit geforscht und untersucht wird.
Die am weitesten verbreitete Theorie vermutet eine Störung der Kommunikation zwischen den beiden menschlichen Gehirnhälften. Als Ursachen könnten aber auch Wahrnehmungsstörungen oder genetische Faktoren eine Rolle spielen. Fest steht nur, dass Stotterer beim Redefluss ins Stocken kommen. Es kann dabei zu Blockierungen oder Dehnungen oder auch zu Wiederholungen von Silben und Worten kommen. Wann die Symptome auftreten, ist jedoch wieder von Fall zu Fall verschieden. Einmal zu Beginn des Sprechens oder auch erst im Verlauf des Redens, in jedem Fall sind die Mitmenschen meist irritiert – zumindest beim ersten Treffen. Oft treten aber auch sekundäre Begleiterscheinungen auf wie etwa Mitbewegungen, Verkrampfungen oder das sogenannte Grimassieren. Laut offiziellen Zahlen sind Burschen viermal häufiger betroffen als Mädchen. Auch im Erwachsenenalter lässt sich Stottern häufiger bei Männern als bei Frauen beobachten.
Aufgrund der Bandbreite an möglichen Ursachen und Gründen für das Stottern ist es wenig verwunderlich, dass es auch eine Vielzahl an Behandlungs- oder Therapiemöglichkeiten gibt. Als wichtigste und meist auch sehr erfolgreiche Therapieform für stotternde Menschen gilt die Logopädie. Darüber hinaus steht eine breite Palette von Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung: von Atmungs- oder Biofeedback-Therapien mit Konzentration auf Entspannungssituationen über die Förderung des Rhythmusgefühls und Musiktherapie bis zur unterstützenden psychologischen oder auch psychotherapeutischen Intervention. Auch eine medikamentöse Behandlung mit spannungslösenden Präparaten gilt als hilfreich und fallweise unterstützend. Nicht nur bei Kindern gibt es große Erfolge durch die richtige Therapie, auch im Erwachsenenalter können sinnvolle Schritte gegen das Stottern unternommen werden.
Spätestens seit dem Film "The King's Speech" sind unterschiedliche Ansätze und Methoden bekannt und wurde das Thema Stottern der Öffentlichkeit näher gebracht. Prinz Albert von York, der spätere König Englands, steht vor einem Mikrofon, und zwar in einem Stadion voller Menschen, die alle auf seine Ansprache warten. Schon beim ersten Satz fängt er zu stottern an. Um im Krieg gegen Deutschland als moralischer Führer Englands bestehen zu können, begibt sich der angehende Monarch in die Hände des Sprachtherapeuten Lionel Logue. Dieser setzt auf – zumindest scheint es so – sehr unkonventionelle Methoden, Sport, Singen und das Herausbrüllen von Schimpfwörtern. Am Ende aber mit Erfolg.
In der Schule
Mit diesen Bildern im Hinterkopf begab sich das "Wiener Journal" in eine logopädische Praxis in Wien und durfte dort einer Therapiestunde lauschen. Florian, ein 12-jähriger junger Mann, hat es erlaubt. Allerdings darf man weder seinen richtigen Namen nennen noch den seiner Logopädin. So die Abmachung. Nachdem dies schon vorab versprochen war, sitzt der Beobachter ruhig in der Ecke eines Raumes und lauscht. Still und stumm mit Aufnahmegerät, damit das Mitschreiben nicht ablenkt. Wie Prinz Albert, so hat auch Florian eine Sprachstörung. Während es in der Volksschule einigermaßen problemfrei ging, kleine Spitzen von Schulfreunden ausgenommen und dem Irrglauben, dass es sich um ein geistiges Problem eines Nachzüglers handeln könnte, nahmen die Probleme im Gymnasium zu. Es muss nicht ein Stadion voller Menschen sein, so wie im Film, es reicht, an der Tafel vor einer Schulklasse zu stehen, um als Stotterer aufzufallen. Auch das Vorlesen macht das Leben in einem Klassenverband nicht einfach, wenn es den anderen Mitschülern zu lange dauert. Dass Florian nun hier steht, schüchtern, aber durchaus guter Dinge – immerhin ist es schon seine dritte Sitzung, ist Zufall. Eines Tages habe er begonnen, seine Lieblingslieder laut mitzusingen, und dies ohne ein Stottern, ohne Nachdenken oder Stocken und Hacken. Von diesem Zeitpunkt an war es nur ein kleiner Schritt zur Logopädie und Musiktherapie.
Am Anfang der Sitzung wird entspannt. Konzentriert. Florian soll sich auf das Singen einstimmen und dabei aber nicht an das Stottern denken. Bei Kindern legt die Logopädin ihren Fokus weniger auf das Erlernen von Sprechtechniken – im Gegensatz zu Erwachsenen – als vielmehr darauf, das Stottern spielerisch zu kontrollieren. Und somit wird einmal gezischt wie ein Zug. Oder aber "Schnee von einer Fensterscheibe geblasen". Florian macht es Spaß, den Eindringling in seine Privatsphäre ignoriert er bald. Und so wird dieser Zeuge einer wunderbaren Wandlung. Wo beim ersten Gespräch noch gestottert wurde, wird nun aus dem Bauch geatmet, das Zwerchfell angespannt, der Zug zischt durch den Tunnel und die Scheibe ist frei von Schnee, und es wird gesungen.
Sichtlich stolz ist Florian auf sich. Das Geleistete und Erreichte dieser Stunde zaubert ihm ein Lachen ins Gesicht. Und es gibt Mut. Stimme als Instrument, nicht mehr als unvollkommenes Hindernis und Störquelle in der Kommunikationsgesellschaft. Das Bewusstmachen ist es auch, was die Logopädin ihrem kleinen Klienten aufzeigen will. Und ein neues Selbstbewusstsein schaffen, damit er auch vor der Klasse oder später dann vor Kollegen ruckelfrei reden können wird.
Aber warum stottert man denn nun nicht beim Singen? Hierzu gibt es folgende Theorien: Beim Sprechen wird der linke Frontallappen des Gehirns benutzt, zum Singen aber der rechte. Aufgrund dieser "Trennung" im Gebrauch kann die Sprachstörung in den Griff bekommen werden. Ein weiterer Grund soll in der sogenannten Atemstütze liegen. Da das Zwerchfell beim Singen in Tiefstellung gehalten wird, wird gleichzeitig auch die Spannung an den Stimmlippen und im Mundraum verstärkt.
Das alles spielt aber für Florian keine Rolle. Bei seiner nächsten Stunde darf Florian seine Lieblingslieder aussuchen. Ob er denn Gareth Gates oder Florian Schubert kenne, will ich wissen. "Natürlich von YouTube", eine knappe Antwort, die vermutlich nicht zum Nachfragen einladen soll. Ich wage es dennoch. "Willst du auch Sänger werden?" Dem Schulterzucken folgt ein "Ich weiß nicht." Viel Reden mag Florian nicht, wenn, dann schon lieber singen. "Darf ich doch ein Foto von dir machen, das würde den Leuten zeigen, wie du aussiehst und was du hier machst?" "Nein." Nun gut, ich habe es versucht. Immerhin bekomme ich die Erlaubnis, mich wieder zu melden. Darf auch wieder einmal zuschauen, da ich gar nicht so viel gestört habe. Ich darf auch ein Interview machen, wenn er ein Musikstar ist, dann auch mit Namen und Bild. Na das ist doch ein feines Angebot.
Als ich gehen will, kommt Florian zu mir – ob ich denn auch Wissenschafter oder Astronauten interviewen würde. Natürlich, warum? Er hat noch einmal nachgedacht, Sänger ist sicher ein harter Beruf, zudem sind die Castingshows doch sehr anstrengend. Dann muss man auch viel auf Tour gehen. Und eigentlich mag er Tiere und Biologie lieber, und fremde Planeten. Und nur weil man stottert, wird man kein Musiker, werde ich belehrt. Aber das muss er ja nun nicht unbedingt werden, wenn ich ihn auch als Astronaut oder Wissenschafter inter-viewen komme. Sagt er und verschwindet zum Spielen.