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Sinn des Lebens ist das Unvollendete

Von Oliver Rathkolb

Politik

Kreisky war als Parteivorsitzender und Bundeskanzler ein "Betriebsunfall". | Ein leidenschaftlicher Politiker mit Gestaltungswillen. | Wien.Als 1946 Kreisky zum ersten Mal nach fast acht Jahren aus dem Exil in Schweden nach Österreich zurückkehrte, brachten geheimdienstliche Erhebungen aus dem ÖVP-Umfeld jenes Bild wieder zu Tage, das Kreisky für den politischen Gegner als potenziellen marxistischen Revolutionär stigmatisierte, der 1935 bis Mitte 1936 über eineinhalb Jahre inhaftiert und als Hochverräter verurteilt worden war - eine Einschätzung, die manche auch der eigenen Genossen dazu brachte, Kreisky wieder in das Exil als Diplomat zurückzuschicken: Potenzielle "Revoluzzer" waren in der SPÖ nicht gefragt.


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Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Bruno Kreisky 2011 überschlagen sich Medien aller Art in Auseinandersetzungen mit dem "Mythos" Kreisky, wobei das gesellschaftliche Umfeld dieses offensichtlich außergewöhnlichen Politikers meist ausgeklammert bleibt, den selbst 27 Jahre nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler 59 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher für den besten Regierungschef der Zweiten Republik halten, obwohl die Jungen bis 30 Jahre mit Kreisky häufig die 2005 gegründete Musik-Band, die seinen Namen trägt, assoziieren.

Eine strukturelle Analyse der Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Politiker in Österreich kommt aber zu dem überraschenden Ergebnis, dass Bruno Kreisky sowohl als Vorsitzender der SPÖ 1967 bis 1983, als auch als Bundeskanzler 1970 bis 1983 eine Art "Betriebsunfall" darstellte, getragen von transnationalen gesellschaftlichen Trends und einer "unösterreichischen" Kanzlerbiographie: Agnostiker jüdischer Herkunft, Sozialist, 1935/36 und 1938 politischer Häftling des Schuschnigg-Regimes und der Nazi-Gestapo, Emigrant und international renommierter Staatsmann mit großbürgerlich-liberalem Flair.

Deswegen kündigte der zentrale Justizreformer der Zweiten Republik, Christian Broda, Bruno Kreisky im Vorfeld der Kampfabstimmung um den Parteivorsitz seine Loyalität auf. Broda konnte sich nicht vorstellen, dass ein nicht religiöser Jude, Langzeitemigrant, Diplomat und Außenpolitiker mit großbürgerlichem Auftreten und Lebensstil in der SPÖ reüssieren könnte.

Diese Faktoren wurden durchaus immer wieder negativ diskutiert und haben beispielsweise verhindert, dass der überzeugte Ur-Wiener Kreisky ein Wiener Nationalratsmandat erhalten hatte und nach Niederösterreich exportiert worden war - wie übrigens bereits in der Zwischenkriegszeit, als schon seine geliebte Wiedener SAJ-Gruppe gegen ihn geputscht und ihn in die "schwarze Wüste" ins Tullnerfeld verbannt hat.

Dass Bruno Kreisky diese innerparteilichen, aber durchaus typisch "österreichischen" Vorbehalte und Vorurteile überwinden und ins Gegenteil transformieren konnte, hing sowohl mit dem viel zitierten Zeitgeist, als auch mit seiner Persönlichkeit zusammen. Kreisky konnte wie kein anderer Niederlagen in Herausforderungen uminterpretieren, um zu versuchen, durch engagierten und unerschütterlichen politischen Gestaltungswillen diese Rückschläge zur Basis seiner politischen Karriere umzuformen: So als exilierter Sozialdemokrat, als er trotz der offensichtlichen Zurücksetzung durch die Parteiführung in hunderten Fällen konkrete Hilfestellung aus Schweden für Österreicher leistete.

Zuvor hatte er schon engagiert für die österreichischen "Militärflüchtlinge", das heißt Deserteure aus der deutschen Wehrmacht, Partei ergriffen. Selbst in der Haft 1935 bis Mitte 1936 zeigt sein Hafttagebuch, wie intensiv er durch ständiges Lesen, aber auch durch das beobachtende Kommunizieren mit den meist kleinkriminellen Mithäftlingen das Haft-Trauma umkehren konnte.

Diese "Münchhausenstrategie" war zwar erfolgreich, hatte aber seinen Preis, der die Schattenseiten Kreiskys mitgeprägt hat - so beispielsweise in der Geschichtspolitik, in der er den österreichischen Schulterschluss der Verharmlosung der NS-Kollaboration und der Opferdoktrin immer mitgetragen hat.

Signifikant für diese Haltung war die emotionalisierte Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal über die SS-Vergangenheit Friedrich Peters, der einer Mordbrigade angehört hatte, wobei Kreisky aggressiv weit über das Ziel hinausgeschossen und Wiesenthal als Kollaborateur der Nazis stigmatisiert und verletzt hatte.

Kreisky war in diesem Verhalten ganz dem österreichischen Mainstream angepasst, da er fürchtete, von Wiesenthal den Österreichern wieder als Jude vorgeführt zu werden und im Schlamm des nach wie vor starken Antisemitismus zu versinken. An dieser Unverhältnismäßigkeit der Mittel der Debatte mit Wiesenthal ändert auch die parteipolitische Absicht des bekennenden ÖVP-Sympathisanten Simon Wiesenthal nichts.

Zur Person

Oliver Rathkolb, geboren 1955, ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Von 1985 bis 2004 fungierte er als wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv.